„Somnambulimus“
Schlafwandler: Von wegen mondsüchtig
Forschung / Lesedauer: 4 min

Der Fall eines 11-jährigen Jungen aus Haßmersheim im Neckar-Odenwald-Kreis sorgte Ende Januar dieses Jahres für großes Aufsehen. Mitten in der Nacht erhielt die örtliche Polizei den Anruf einer Frau, die behauptete, dass „ein kleiner, nur leicht bekleideter Junge auf ihrer Klingelanlage zu sehen gewesen war“. Bis sie jedoch bei der Tür gewesen sei und diese geöffnet habe, war das Kind bereits wieder verschwunden, erklärte sie gegenüber den Beamten.
Was folgte, war eine groß angelegte Suchaktion von Polizei und Feuerwehr. Auch ein Hubschrauber war für die Suche angefordert worden. Allein, ein umherirrendes Kind konnten sie nirgends finden. Doch den Jungen gab es wirklich, und er erschien auch tatsächlich auf dem Bildschirm der Klingelanlage. Fußabdrücke, die die Einsatzkräfte von ihm fanden, führten auf die Spur des 11-Jährigen.
Des Rätsels Lösung. Der Junge ist Schlafwandler. In diesem ganz speziellen geistigen Zustand hatte er das elterliche Haus verlassen, war umhergelaufen und am Ende unversehrt wieder zu Hause eingetroffen.
Der Fall des 11-Jährigen bestätigte ein Merkmal, das Forscherinnen und Forscher in den vergangenen Jahrzehnten über das Phänomen des Schlafwandelns herausgefunden hatten. Denn in der Mehrzahl sind hiervon Kinder und Jugendliche betroffen. Sein Verhalten hingegen bildete unter Schlafwandlern eher eine Ausnahme. Denn in den allermeisten Fällen, das haben Berichte und Beobachtungen von Angehörigen der Betroffenen ergeben, findet das Schafwandeln in den eigenen vier Wänden statt.
Schlafwandeln ist unvollständiges Aufwachen
Sowohl Mediziner als auch Psychologen forschen seit Jahrzehnten zum Phänomen des Schlafwandelns. Stand heute handelt es sich beim Schlafwandeln um ein „unvollständiges Aufwachen“. So beschreiben es der Mediziner Jürgen Hoppe und der Psychologe Michael Schredl von der Arbeitsgruppe Traum der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin. Aber „Die Ursachen dieses unvollständigen Aufwachens sind bis heute nicht ausreichend geklärt“, schreiben Hoppe und Schredl in ihrer Abhandlung „Schlafwandeln, wie kann ich damit umgehen“.
Was inzwischen klar ist: Mit der sogenannten Mondsüchtigkeit, wie es früher im Volksmund hieß, hat das Schlafwandeln nichts zu tun. Und auch das „Ausleben von Träumen“ kann gemäß der bisherigen Erkenntnisse der modernen Schlafforschung weitestgehend als unkorrekt betrachtet werden. Denn, wie man inzwischen weiß, findet das Schlafwandeln nicht während der Traumphasen des Gesamtkomplexes Schlaf statt.
Traumbedingte Unruhe oder Schlafwandel?
Die Traumphasen fallen überwiegend in die Phasen des REM-Schlafs (Rapid Eye Movement Schlaf). Auch sie können jedoch zu größerer (körperlicher) Aktivität führen– allerdings begrenzt auf den dort Ort, wo man sich zum Schlafen hingelegt hat. Deshalb untersuchen Ärzte und Psychologen bei wiederkehrender Unruhe im Schlaf, ob der Patient an traumbedingter Unruhe leidet oder doch schlafwandelt.
Studien des Pariser Instituts zur Erforschung von Gehirn und Rückenmark und von Ärzten der Abteilung Schlafpathologie eines Pariser Klinikums bestätigten die Unterschiede der beiden Schlafunruhe-Zustände. Die Forscher erkannten aber auch eine Gemeinsamkeit, denn: „Die Ergebnisse zeigen, dass typische Merkmale von Verhaltensstörungen im REM-Schlaf, wie intensive Träume oder Albträume und das Gefühl, diese durch Gestik körperlich zu ‚erleben‛, häufig bei schlafwandelnden Patienten auftreten.“
Das Warum ist bislang nur teilweise geklärt
Während also auf die Fragen nach dem Wann und dem Wie des Schlafwandelns ausreichend validierte Antworten gegeben werden können, ist die Frage des Warum nach wie vor nur teilweise geklärt. Die Forscher sehen neben genetischen Faktoren, die den Schlafwandel „sehr wahrscheinlich“ auslösen, auch eine Zunahme von Stress, die zu Somnambulismus (so der Fachausdruck fürs Schlafwandeln) führen kann.
„Heute nimmt man an, dass es beim Schlafwandeln dazu kommt, dass das Gehirn nach einem Weckreiz (von außen oder innen) nicht vollständig erwacht und deshalb komplexe Verhaltensweisen mit nachfolgender Amnesie - das heißt fehlender Erinnerung an das Ereignis – auftreten“, erläutern die deutschen Forscher Schredl und Hoppe.
Eine Schlafwandelepisode dauert in der Regel Sekunden bis Minuten. Es sind aber auch Fälle bekannt geworden, die 1 Stunde oder länger angedauert haben.
Nicht abrupt aufwecken
Was aber sollten Menschen tun, die einem Schlafwandler begegnen? Die Experten raten dringend davon ab, ihn abrupt zu wecken. Vielmehr sollte die schlafwandelnde Person – wenn sich das Geschehen in der eigenen Wohnung abspielt – ruhig angesprochen und vorsichtig ins Bett zurückgebracht werden.
Das ruhige und persönliche Ansprechen beherzigte im Jahr 2018 auch ein 25-jähriger Autofahrer aus Überlingen. Wie die Schwäbische Zeitung seinerzeit berichtete, hatte der junge Mann morgens um 2 Uhr bei -4 Grad Celsius einen Mann entdeckt, der nur mit einer Unterhose bekleidet unterwegs war. Er holte den 44-Jährigen zu sich ins Auto, wo der Mann nach einiger Zeit wieder komplett aufgewacht sei und seinem Retter erläutern konnte, dass er zum Schlafwandeln neige.
Die restliche Nacht konnte der vor der klirrenden Kälte Gerettete dennoch nicht mehr im eigenen Bett verbringen. Er hatte sich bei seinem nächtlichen Ausflug ausgesperrt und kam schließlich bei einem Verwandten unter.