Fachkräftemangel
Warum Einwanderung völlig neu gedacht werden muss
Berlin / Lesedauer: 6 min

Carsten Korfmacher
Als die Ampel–Koalition jüngst zwei Gesetze zur Sicherung von Fachkräften in Deutschland verabschiedete, wurde nicht mit Superlativen gespart. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) sprach von „historischen Entscheidungen“, Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) frohlockte gar, dass die Bundesrepublik nun „das modernste Fachkräfte–Einwanderungsgesetz der Welt“ erhalte.
„Der Mangel an Arbeitskräften ist eine der größten Gefahren für unseren Wohlstand“, sagte Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) — und leitete daraus gleich einen Auftrag an die Politik ab: „Wir müssen im Wettbewerb um die klügsten Köpfe attraktiv sein.“
Gelingen soll dies unter anderem durch ein Punktesystem nach dem Vorbild Kanadas und Australiens, das die Einwanderungsbedingungen für ausländische Fachkräfte transparenter darstellen und die Arbeitsaufnahme erleichtern soll. Auch ein rückwirkend gültiger sogenannter Spurwechsel zwischen Asyl– und Arbeitseinwanderung soll möglich sein.
Sicherheit der deutschen Sozialsysteme ist nicht garantiert
Es ist kein Zufall, dass sich die Politik nun verstärkt dem Problem des Fachkräftemangels und einer Lösung durch Einwanderung widmet. Denn die Abnahme der deutschen Bevölkerung kann nur noch durch Migration kompensiert werden kann. Dies ist kein neues Phänomen. Das letzte Jahr, in dem in Deutschland die Geburtenrate über der Sterberate lag, war 1972.
Mit anderen Worten: Die Bundesrepublik ist bereits seit über 50 Jahren demografisch nicht mehr autark. Ganz egal, wie erfolgreich Politik und Wirtschaft darin sind, Frauen, Rentner oder Arbeitslose in Beschäftigung zu bringen: Ohne Einwanderung lässt sich der Bedarf der Wirtschaft an Fachkräften nicht decken.
Daraus folgt auch, dass sich schon seit Jahrzehnten ohne Einwanderung die Sicherheit der deutschen Sozialsysteme nicht garantieren lässt. Dieses Problem spitzt sich in den kommenden Jahren zu, da der demografische Wandel nun einen systemischen Kipppunkt erreicht: Auf der einen Seite gehen derzeit die geburtenstarken Baby–Boomer der Jahrgänge 1955 bis 1969 in Rente.
Auf der anderen Seite erhöht die steigende Zahl älterer Bürger die Staatsausgaben im sozialen Bereich: Die Kosten für Rente, Pflege und das Gesundheitswesen steigen stark an und müssen gleichzeitig von immer weniger Arbeitnehmern geschultert werden. Die Geburtenzahlen in Deutschland erreichten 1964 ihren Höhepunkt, sodass etwa ab dem Jahr 2029 mit einer vorläufigen Kulmination der Finanzierungskrise der sozialen Versorgungssysteme zu rechnen ist.
Danach wird es nicht besser, sondern nur weniger schnell schlechter. Zuletzt wiesen die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) und die Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg auf die erheblichen Gefahren für die Entwicklung des Wohlstands in Deutschland hin, sollte das Problem des Fachkräftemangels nicht gelöst werden können.
Es drohen erhebliche Wohlstandsverluste
Es ist wenig verwunderlich, dass laut KfW schon heute 60 Prozent des Beschäftigungsaufbaus in Deutschland durch ausländische Arbeitskräfte getragen wird. Die Wichtigkeit ausländischer Fachkräfte wird zukünftig weiter zunehmen, da an vielen Stellen — zum Beispiel bei der Erhöhung der Erwerbsquoten von Frauen, Rentnern, Arbeitslosen oder Teilzeitkräften — schon erhebliche Erfolge erzielt wurden.
Deshalb übersteigt der zukünftige Bedarf an Fachkräften bei Weitem die Potenziale, die hier noch gehoben werden können. Im Klartext: Ohne eine massiv steigende Einwanderung in den Arbeitsmarkt drohen erhebliche Wohlstandsverluste in Deutschland.
Die Zahl der Rentner steigt und steigt
Von welchen Größenordnungen sprechen wir hier? Im Jahr 2021 lag die Nettozuwanderung bei knapp 330.000. Um das Erwerbspersonenpotenzial konstant zu halten, geht die Bundesregierung von einer zukünftig notwendigen Nettozuwanderung von rund 400.000 Personen pro Jahr aus. Diese Zahl dürfte aber deutlich zu tief gegriffen sein.
Zum einen ignoriert sie den demografischen Wandel: Zukünftig werden mehr Erwerbstätige benötigt, um die steigende Zahl an Rentnern auszugleichen. Zum anderen basiert sie auf der optimistischen Annahme, dass die Erwerbsquoten von Nicht–Erwerbstätigen in der Zukunft in demselben Tempo gesteigert werden können wie in der Vergangenheit. Diese Annahme scheint jedoch zu optimistisch.
Ein politischer und gesellschaftlicher Kraftakt
In einer Studie zum Fachkräftemangel in Deutschland ist die staatliche Kreditanstalt für Wiederaufbau von einem pessimistischen Szenario ausgegangen, nämlich dass der Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials allein durch Einwanderung kompensiert werden müsste.
Dazu müssten der KfW zufolge ab Mitte dieses Jahrzehnts jedes Jahr netto 700.000 Personen im Erwerbsalter einwandern, wenn nur die Bevölkerungsabnahme, nicht aber der demografische Wandel betrachtet würde. Da aber mehr Personen in Rente gehen als ins Erwerbsalter kommen, sind 1,3 Millionen Zuwanderer im erwerbsfähigen Alter notwendig.
1,1 Millionen Zuwanderer sind nötig - aber jedes Jahr
„Und das gilt nur, wenn man gleiche Qualifikationen unterstellt“, heißt es in der KfW–Studie. Würde außerdem berücksichtigt, dass viele Zuwanderer als Hilfskräfte arbeiten, weil ihre Deutschkenntnisse nicht ausreichen oder ihre Abschlüsse nicht anerkannt werden, „müsste der Zuwanderungssaldo in der Altersgruppe auf 1,8 Millionen steigen“.
Wenn wir annehmen, dass ein realistisches Szenario irgendwo in der Mitte liegt, dann würde pro Jahr eine Nettozuwanderung von rund 1,1 Millionen benötigt, um den Wohlstand der Bundesrepublik zu erhalten. Das wäre nicht nur eine bislang unerreichte Zahl — es wäre ein politischer und gesellschaftlicher Kraftakt, der die Vorstellungskraft vieler Menschen übersteigt.
Allein diese Größenordnung zeigt, dass „Einwanderung“ das bestimmende Thema des gesellschaftspolitischen Lebens im Deutschland der kommenden Jahrzehnte werden wird. Deshalb reicht es auch nicht aus, zwei Gesetze zur Fachkräftesicherung durch den Bundestag zu jagen. Um den Anforderungen der Zukunft gewachsen zu sein, muss in Deutschland das Thema „Einwanderung“ komplett neu gedacht und gesellschaftlich verhandelt werden.
Brauchen ehrlicheren Umgang mit dem Thema
Diese Neuorientierung in der Einwanderungspolitik beschränkt sich nicht auf offensichtliche Probleme wie Bürokratisierungswahn, Wohnungsnot, eine ungenügende Digitalisierung oder hohe Lebenshaltungskosten. Deutschen Unternehmen muss es leichtfallen, ausländische Fachkräfte einzustellen und diese müssen ein Umfeld vorfinden, in dem sie gerne leben wollen.
Werden ausländische Qualifikationen problemlos anerkannt? Wie leicht ist es, Bürogänge zu erledigen oder eine Steuererklärung zu machen? Wie hoch sind Steuern und Sozialabgaben im Vergleich zu anderen Ländern, in denen ähnlich hohe Bruttogehälter verdient werden?
Deutsch als Hindernis
Gleichzeitig braucht es auch auf gesellschaftlicher Ebene einen ehrlicheren Umgang mit den Themen Einwanderung und nationale Identität. Studien zum Wohlbefinden ausländischer Fachkräfte in Einwanderungsländern zeigen nämlich, dass die größten Probleme internationaler Mitarbeiter in Deutschland vor allem sozialer Natur sind.
Sie finden selten deutsche Freunde, nehmen eine gewisse Intoleranz gegenüber sprachlichen Schwierigkeiten wahr und fühlen sich gesellschaftlich weniger eingebunden als in anderen Einwanderungsländern.
Es droht ein gefährliches Dilemma
Das liegt auch daran, dass die öffentliche Debatte zu diesem Thema von radikalen Polen beherrscht wird und deswegen tabubehaftet und ideologiegeladen ist. Die Chancen und Schwierigkeiten von Einwanderung und ihre Auswirkungen auf die eigene nationale Identität können deshalb kaum unverkrampft diskutiert werden, was die Entstehung von Ressentiments gegenüber Zuwanderern wahrscheinlicher werden lässt.
Das ist ein bedrohlicher Befund: Denn das Letzte, was sich die Bundesrepublik in den bevorstehenden harten Zeiten leisten kann, ist ein Dilemma zwischen eklatanten Wohlstandsverlusten und einer steigenden Fremdenfeindlichkeit.