Scherbe

Schmelze aus Sand und Scherben: Wie bei Verallia Glasflaschen entstehen

Bad Wurzach / Lesedauer: 8 min

Markus Beutinger ist bei Verallia in Bad Wurzach der Experte für die Glasherstellung. Nach 40 Berufsjahren packt er nun noch einmal ein ganz großes Projekt an.
Veröffentlicht:25.06.2022, 10:00

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Markus Beutinger dreht sich die Ohrstöpsel ins Ohr und setzt die Schutzbrille auf. „Jetzt wird es gleich laut und heiß“, warnt der Leiter des Technischen Zentrums und öffnet die Tür zur riesigen Produktionshalle des Glasherstellers Verallia in Bad Wurzach (Landkreis Ravensburg). Dem Besucher schlagen ein heißer Luftschwall und Maschinenlärm entgegen. Beutinger – drahtiger Typ, Rennradfahrer – steigt eine Stahltreppe hinauf.

Oben angekommen ist es unerträglich heiß. Eine kleine Plattform gibt den Blick auf ein stählernes Monstrum frei, hinter dem es – aus etlichen Ritzen – glutrot leuchtet. Durch eine kleine Klappe kann man einen Blick ins Innere der riesigen Schmelzwanne werfen. Dort wabert eine zähflüssige, heiße Masse. Glasschmelze.

Drei solcher Glaswannen betreibt die Verallia Deutschland AG am Standort Bad Wurzach , jede zwischen 85 und 130 Quadratmeter groß, was einer Kapazität von mehreren Hundert Tonnen Glas pro Tag und Wanne entspricht. Der Innenraum, der aussieht wie ein Gewölbekeller, ist komplett mit feuerfestem und extrem hitzebeständigem Material ausgekleidet. „Rund 50 verschiedene Materialarten werden entsprechend ihrer chemisch-physikalischen Beanspruchung darin verbaut“, erklärt Beutinger.

Der Aufwand für die extrem teuren Schmelzwannen ergibt sich aus ihrem Bestimmungszweck: In ihnen muss ein Rohstoffgemisch – im Wesentlichen Recyclingglas, Quarzsand, Soda und Kalziumkarbonat – bei gut 1500 Grad Celsius aufgeschmolzen werden – eine Temperatur, die sogar noch über der für die Stahlherstellung liegt. Und diese Temperatur muss 365 Tage im Jahr und 24 Stunden am Tag gehalten werden. Denn eine sich abkühlende und erstarrende Glasschmelze würde die Wanne unbrauchbar machen. Eine Katastrophe für jeden Glashersteller.

Ein extrem energieintensiver Produktionsprozess

Damit ist klar: Die Glasherstellung ist eine extrem energieintensive Sache – ein Umstand, der das Unternehmen in Bad Wurzach seit seiner Gründung im Jahr 1946 umtreibt und herausfordert. Damals, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, war das Torf des nahegelegenen Wurzacher Rieds der Grund, weshalb Josef Wick aus Ulm in Bad Wurzach eine Glashütte bauen ließ. Die Idee war, das Naturmaterial zu verkoken und mit dem daraus gewonnenen Gas die Schmelzwannen für die Glasherstellung zu beheizen. Nasse Sommer Anfang der 1950er-Jahre sorgten dafür, dass der Torf für die Erzeugung von Gas nicht mehr trocken genug war. Das Unternehmen, das damals noch Oberland Glas GmbH hieß, stellte auf mittelschweres Heizöl um. Heute kommt überwiegend Erdgas zum Einsatz.

Die Herausforderungen sind dadurch nicht kleiner geworden. Im Gegenteil. Die angepeilte Dekarbonisierung der Wirtschaft und der damit verbundene Verzicht auf fossile Brennstoffe zwingen Verallia zu einer erneuten Transformation. Die zuletzt stark gestiegenen Erdgaspreise und ein mögliches Gasembargo Russlands tun ihr Übriges. „Wir kommen in eine Phase, in der sich die Glasindustrie extrem wandeln wird“, sagt Markus Beutinger, der seit 40 Jahren bei Verallia in Bad Wurzach arbeitet, und der sich sicher ist, dass sein Arbeitgeber diesen Wandel meistern wird. Wie? Verallia soll von einem „gasintensiven“ in ein „stromintensives“ Unternehmen umgebaut werden. Das sei, so Beutinger, die Aufgabe der nächsten zehn bis 15 Jahre.

Bereits heute beheizt Verallia seine Glaswannen zu zehn Prozent mit Strom, eine Energie, die sich laut Beutinger „ideal für die Glasherstellung eignet“. Das liegt an den physikalischen Eigenschaften von Glas. Das ist im festen Zustand nämlich ein Isolator, im flüssigen Zustand hingegen ein elektrischer Leiter. „Dadurch kann man Glas wie bei einer elektrischen Widerstandsheizung erhitzen“, erklärt Beutinger. Zudem kommt die Energie, die über Molybdänelektroden eingeleitet wird, genau da an, wo sie den höchsten Wirkungsgrad hat: Am Boden der Wanne, dort wo sich die Glasschmelze befindet.

Die Beheizung der Wannen mit Gas hingegen ist deutlich ineffizienter, weil die Flammen oberhalb der Glasschmelze eingebracht werden. Die Energie muss sich also erst ihren Weg durch das Rohstoffgemisch bahnen und dieses aufschmelzen. „Das geht bei Weißglas noch ganz gut. Doch farbiges Glas filtert und absorbiert die Wärmestrahlung, was den Energiebedarf nach oben treibt“, erklärt Beutinger.

Im Ökostrom liegt die Zukunft der Branche

Allerdings hält die Umstellung auf eine elektrische Wannenbeheizung für Verallia einige Tücken parat. Erstens, kann nur Weißglas in vollelektrischen Wannen geschmolzen werden. Farbglas hingegen verlangt sogenannte Hybridwannen, die mit Strom und Gas betrieben werden. Letzteres soll perspektivisch durch Wasserstoff oder Biogas ersetzt werden. Und zweitens, muss der Strom natürlich aus erneuerbaren Energien kommen. Nur so lassen sich die ambitionierten Klimaziele erreichen, die sich das Unternehmen auferlegt hat. Diese sehen vor, bis 2050 CO2-neutral zu sein. Der aktuelle Strommix in Deutschland hingegen verursacht pro Megawatt mehr CO2 als das Verbrennen von Gas.

Die Umstellung auf grünen Strom ist aber nur die eine Seite der Medaille. Soll die Transformation gelingen, muss Verallia auch seinen Energieverbrauch senken. Wie hoch der aktuell ist, verrät das Unternehmen allerdings nicht. Betriebsgeheimnis.

Dabei hat die Glasindustrie in diesem Punkt in den vergangenen 100 Jahren schon Beachtliches erreicht. Hatte es damals noch 5000 Kilowattstunden gebraucht, um eine Tonne Glas herzustellen, sind es heute im Schnitt nur noch 900 Kilowattstunden. Fortschritte im Bau der Schmelzwannen, eine bessere Brennertechnologie vor allem aber der Einsatz von Recyclingglas machten diesen Sprung möglich.

Mit einer Gemenge- und Scherbenvorwärmung, die Verallia im September dieses Jahres in Bad Wurzach in Betrieb nimmt und mit der die Glas-Rohstoffe durch die Hindurchleitung heißer Abgase auf 220 Grad Celsius vorgewärmt werden, soll der Energieverbrauch am Standort um knapp 15 Prozent gedrückt werden.

Auf der Suche nach neuen Rohstoffen

Parallel dazu arbeitet Beutinger, der als Chemielaborant in der Feldmühle-Papierfabrik in Baienfurt ins Berufsleben gestartet ist, an der CO2-Bilanz der Rohstoffe, die für die Glasherstellung notwendig sind. „Kalkstein, der als Stabilisator für die glasigen Eigenschaften wie Festigkeit, Formbarkeit und Transparenz verantwortlich ist, besteht zu 45 Prozent aus mineralisch gebundenem CO2. Jetzt geht es darum Rohstoffe zu finden, die kein CO2 gebunden haben und auch keins mehr an die Umwelt abgeben“, erklärt der Glasexperte.

Soda beispielsweise, das den Schmelzpunkt des Quarzsands reduziert, könnte laut Beutinger durch Natronlauge ersetzt werden. Vor allem aber soll das Ziel durch einen noch höheren Einsatz von Recyclingglas gelingen. Aktuell liegt der Anteil von Scherben am Rohstoffmix von Verallia bei bis zu 85 Prozent. Perspektivisch soll die Quote auf 90 Prozent gesteigert werden. Doch dafür müsse die Qualität des Recyclingglases besser werden, sagt Beutinger.

Das gilt vor allem für die Herstellung von Weißglas und lässt sich recht anschaulich mit Malerarbeiten vergleichen: Schon ein Schnapsglas grüne Farbe sorgt in einem Eimer Alpinaweiß dafür, dass das Ergebnis an der Wand hellgrün wird. Ähnlich ist es bei der Glasherstellung. Eine hohe Zugabe von Recyclingglas ist nur möglich, wenn es farblich einwandfrei sortiert ist.

„Deshalb ist die Trennung nach Farben an den Altglascontainern auch so wichtig“, erklärt Beutinger und macht noch einmal auf die Sortierregeln aufmerksam: weiß zu weiß, grün zu grün, braun zu braun – und wenn man sich einmal nicht sicher sei, ob die Flasche nun grün oder braun ist, dann immer in den Container für Grünglas einwerfen.

Glas als Beispiel für ein funktionierendes Kreislaufsystem

Dieses Kreislaufsystem ist es auch, das Dirk Bissel, Vorstandschef der Verallia Deutschland AG, positiv in die Zukunft blicken lässt. „Wir sehen in der Nachhaltigkeit des Produktes den besonderen Wert. Das gibt der Industrie eine gute Perspektive. Wir müssen nur die Energietransformation schaffen“, sagt der Manager. Die Ideen und Technologien, wie das gelingen könne, lägen parat. Doch brauche es nun vor allem die notwendige Infrastruktur, die Stromkabel oder Hochspannungstrassen – und zwar auch hier in Bad Wurzach. Das sei die Herausforderung für die nächsten Jahre.

Markus Beutinger, den Vorstandschef Bissel wertschätzend „das Kompetenzzentrum Verallias in Sachen Glasherstellung“ nennt, wird das Unternehmen auf diese Transformation vorbereiten. Vollenden kann er sie mit 62 Jahren, kurz vor dem Renteneintritt, wohl nicht. Was dieser „sehr schade“ findet – jetzt, wo in der Branche gerade so viel passiert.

Verallia in Zahlen

Die Verallia Deutschland AG mit Hauptsitz in Bad Wurzach und sechs weiteren Standorten in Deutschland, Russland und der Ukraine gehört mehrheitlich zur französischen Verallia Gruppe. Heute beschäftigt das Unternehmen 3000 Mitarbeiter, 550 davon in Bad Wurzach. Im vergangenen Jahr setzte Verallia Deutschland 552 Millionen Euro um (minus 0,6 Prozent) und erzielte ein operatives Ergebnis vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen von 116 Millionen Euro (minus 4,3 Prozent).

In Bad Wurzach stellt Verallia rund 300 verschiedene Flaschenformen her – hauptsächlich für die Getränkeindustrie. Das Werk, das im Laufe seiner 76-jährigen Geschichte mehrmals vor dem Aus stand, gilt als Erfinder des Glasrecyclings. Angefangen hat in Bad Wurzach alles mit Einmachgläsern, die Firmengründer Josef Wick als Wick-Gläser auf den Markt bringen wollte, was Konkurrent Weck mit Verweis auf den Markenschutz allerdings unterband. So bot Wick seine Produkte kurzerhand unter dem Label „Markenlos“ an.