Kein Pappenstiel
Wie bei Palm in acht Sekunden aus Brei festes Papier entsteht
Aalen / Lesedauer: 8 min

Auf der Digitalanzeige tickert die Zeit runter, in etwas weniger als 120 Sekunden wird die große Rolle mit braunem Papier für Kartons und Verpackungen voll sein. Das Dröhnen am Ende der 120 Meter langen Papiermaschine nimmt immer mehr zu.
Das Geländer am Kontrollstand fängt an zu vibrieren, als das Leereisen Fahrt aufnimmt; denn die blaue Stahlstange muss an diesem Tag auf eine Geschwindigkeit von rund 1150 Metern in der Minute kommen, mit der das Papier aus der Anlage saust und aus dem Leereisen einen vollen Tambour macht: eine mehr als 125 Tonnen schwere Rolle von Wellpappenrohpapier.
Tobias Tretter beugt sich vor, seinen Augen verfolgen genau, wie ein Laser die Papierbahn zerschneidet, das Leereisen sie übernimmt und aufzuwickeln beginnt. Unter einer orangen Warnweste trägt der 39-Jährige einen blauen Pulli, den am Rücken das Kürzel PM5 ziert.
Es steht für Papiermaschine 5 – und damit für die weltweit größte und modernste Anlage zur Produktion des Papiers, aus dem Wellpappe entsteht, die in Form von Päckchen und Paketen, von Kartons, Boxen, Behältern und Schachteln Produkte aller Art transportiert, verpackt und schützt.
Stammsitz auf der Ostalb
Das Wasser, das gerade noch im Papier gewesen ist, quillt wenig später in dicken, weißen Schwaden als Dampf aus einem Schornstein im Tal des Flusses Kocher südlich vom Zentrum der Stadt Aalen. Auf der Fassade des Fabrikgebäudes steht in blauen Buchstaben Palm . Im Juli hat das Traditionsunternehmen die PM5 an seinem Stammsitz auf der Ostalb in Betrieb genommen. Für Oberwerkführer Tobias Tretter war die Anlage, für die die Palm-Gruppe das Fabrikgelände umgebaut und modernisiert hat, ein wichtiger Grund, um zu seinem Lehrbetrieb zurückzukehren.

„Mein Bruder hat sich bei Palm beworben, und dann hat meine Mutter gesagt, den Kleinen schicken wir gleich mit“, erzählt der gebürtige Aalener. „Ich bin hier rein, habe die Papiermaschinen gesehen und hab’ gedacht – wow.“ Die PM5 gab es damals noch nicht, 1998 hatte Palm in Aalen noch drei einzelne Anlagen laufen, eine für Zeitungspapier und zwei für Wellpappenrohpapier. Am Ende seiner Lehre war Tretter klar: Er wollte an eine Maschine mit braunem Papier für Wellpappe – und dort wählte er die Handzahme PM4. „Die andere war ein ziemliches Biest“, sagt er – und lacht über seinen Vergleich.
Die neue PM5 ist nun größer, gewaltiger, schneller als die Anlagen, auf denen sich Tobias Tretter vom Maschinengehilfen zum Oberwerkführer hochgedient hat – viel Respekt hat der Papiermacher trotzdem nicht vor dem stählernen Koloss, der normale Einfamilienhäuser überragt. Er hat ein anderes Verhältnis zu der Maschine: Wenn er auf den Gängen und Treppen unterwegs ist, kennt er jeden Hebel, jedes Rad, fast liebevoll beobachtet er, wie die schweren in den Hüttenwerken von Königsbronn gefertigten Walzen die Siebe mit dem Papierbrei übernehmen und die Bahnen dann in den Teil der Anlage schicken, die das Papier trocknet.
Nach acht Sekunden wird aus dem Brei festes Papier
„Ich beherrsche alle Teile der Maschine“, sagt Tobias Tretter – und ist im ersten Moment selbst überrascht über die selbstbewussten Worte. Denn eigentlich ist der Schwabe zurückhaltend, die lauten Töne überlässt er anderen. Nur wenn es um die Papiermaschine geht, um „die Arbeit am Sieb, die das Herz ist, weil da das Papier entsteht“, dann ist er in seinem Element, ist sich seiner Kenntnisse gewiss – und stolz auf das Wissen um die Jahrtausende alte Kunst des Papiermachens.

Nach der Meisterschule arbeitete er als Schichtführer, ging für fünf Jahre nach England, stieg dort zum Oberwerkführer auf und betreute eine Anlage, die Palm 2009 in Betrieb nahm und die mittlerweile die einzige ist, die auf der Insel noch Zeitungspapier herstellt. Zwei Jahre arbeitete er für Zulieferer der Papierindustrie, bis er 2017 nach Aalen zurückkehrte – zurück zu den „alten Damen“, wie Tretter erzählt. Mit den „alten Damen“ sind die beiden Maschinen für Wellpappenrohpapier gemeint, die Handzahme und das Biest, die damals noch liefen.
Es ist aber nicht die Sehnsucht nach den alten Damen gewesen, die Tobias Tretter zurück nach Aalen gezogen hat. Und neben dem Wunsch, wieder daheim zu leben, gab es noch etwas. „Klar wollte ich nach Hause, ich bin ein Schwob, ich brauch’ am Morgen eine Bretzel“, erzählt Tretter. Aber wieder auf die Ostalb gezogen hat ihn auch eine Idee von Palm-Chef Wolfgang Palm. Eine Idee, die 2017 mehr und mehr Gestalt annahm und die vorsah, in Aalen die weltweit modernste Papiermaschine für Wellpappe zu bauen. 2019 begann der Bau, im Juli ging die PM5 in Betrieb.

Acht Sekunden dauert es, bis aus dem Papierbrei, den unzählige gelbe und blaue Schläuche zwischen zwei Siebe spritzen, festes, braunes Papier wird. Bevor die PM5 die flüssige Mixtur allerdings verarbeitet, müssen in der Werkhalle nebenan die Pflanzenfasern zubereitet werden. Und unter Zubereitung ist in diesem Fall vor allem das Säubern und Ordnen zu verstehen. Denn der Grundstoff, den Palm in Aalen verarbeitet, ist Altpapier. In riesigen geschnürten Ballen lagert es vor dem Werk. „Das Ding hat schließlich Hunger“, sagt Tobias Tretter. Rund 72 Lastwagenladungen verschlingt die PM5 jeden Tag.
Faser kann bis zu 20-mal wiederverwendet werden
Das Altpapier landet am Anfang der Aufbereitung in einem Riesenmixer, der die alten Zeitungen, Kartons, Pappen, Briefe und Bücher in Wasser auflöst. Unzählige Siebe, Zentrifugen und Sortierbleche entfernen aus dem Fasermatsch Kleber, Folienreste, Styropor, Drähte und Metallklammern. Das Wasser ist heiß, die Luft in der Halle schwül-feucht. Und der Geruch beißend, es riecht nach gährendem Abfall. Bis zu 25 Prozent Fremdstoffe kommen zusammen, bevor wieder Siebe und Zentrifugen die Fasern in lange und weniger lange trennen – und die aussortieren, die zu kurz sind. Der stinkende Müll quillt als warmes, fast trockenes Gewirr aus Plastikstückchen, Klebebandfetzen und Fasern in einen Container.

„Früher waren die Holzfasern nur sechs- siebenmal zu nutzen, heute sind die Aufbereitungsmethoden jedoch wesentlich schonender“, sagt Technikchef Stephan Gruber. „Da kann man eine Faser bis zu 20-mal wiederverwenden.“ Danach wird die Faser zu kurz, und damit die Kraft, die das Papier zusammenhält, zu gering. Wenn die Fasern im Anschluss mit viel Wasser auf dem Sieb sind, verdichten sie sich nach und nach zu einer Papierbahn, die zuerst noch von zwei Sieben, später noch von einem gestützt wird. Filze und Vliese nehmen sie auf und pressen sie weiter, bis die Papierbahn aus dem Nassbereich der PM5, in den Trockenbereich der Maschine läuft und dort getrocknet wird – und zwar von heißen Gaswalzen, die für die Wasserdampfwolken im Kochertal sorgen.
In einer Schicht arbeiten an der Maschine 13 Menschen, sie reichen, um einen Koloss wie die PM5 laufen zu lassen. Nicht zuletzt deswegen ist die Papierbranche für Technikchef Gruber ein Beispiel für „eine hochautomatisierte und energieintensive Industrie, die man in Deutschland betreiben kann.“ Und die Aussichten sind gut: Zwar geht die Nachfrage nach Zeitungspapier wegen der sinkenden Auflagen der Verlage zurück, aber der Absatz des braunen Papiers, das Tobias Tretter von Beginn an machen wollte, steigt und steigt.
Jahresproduktion steigt mit der PM5 von 110.000 auf 750.000 Tonnen
„Der Online-Boom hilft uns natürlich“, sagt Stephan Gruber. „Aber vor allem kommt uns der Trend entgegen, dass die Verpackungsindustrie alles Plastik und Styropor verbannen will – das machen wir natürlich sehr gerne mit.“ Rund 500 Millionen Euro hat Palm in die PM5 und in die dazugehörigen Hallen investiert – und damit eine Anlage geschaffen, die die handzahme PM4, auf der Tobias Tretter gelernt hat, wie ein kleines Maschinchen aussehen lässt. Die Papierbahn der PM5 ist mit fast elf Metern mehr als doppelt so breit wie die der PM4, die Geschwindigkeit fünfmal so hoch – die Jahresproduktion steigt damit von 110 000 auf 750 000 Tonnen.

Damit produziert die PM5 im Jahr 7500 von den riesigen Rollenungetümen, die Tobias Tretter am Ende seiner Papiermaschine genau kontrolliert. Für die Auslieferung werden sie noch einmal umgerollt und in kleinere Rollen aufgeschnitten, bevor ein Roboter ihnen das verzierte Siegel von Palm und einen Barcode aufklebt. Eine Arbeit, die Tobias Treter vor vielen Jahren noch von Hand gemacht hat, als er als Lehrling das erst Mal an die Maschine durfte. An die PM4, die Handzahme.