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Streckverband

Vom Rennschlitten in den Streckverband

Leutkirch / Lesedauer: 4 min

Vom Rennschlitten in den Streckverband
Veröffentlicht:12.02.2013, 18:50

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Georg Hegele hat 1945 acht Wochen im Leutkircher Krankenhaus gelegen. 235 Reichsmark standen dafür auf der Rechnung.

Über kurz oder lang wird es Geschichte sein, das Leutkircher Krankenhaus. Mehr als 100 Jahre hindurch hat es Patienten beherbergt, versorgt, geheilt. Viele von ihnen erinnern sich noch sehr genau an ihren Aufenthalt, an ihre Geschichte(n) dort – auch nach mehr als einem halben Jahrhundert. Georg Hegele aus Frauenzell zum Beispiel: Acht Wochen musste er nach einem Unfall im Leutkircher Krankenhaus verbringen. Zu Beginn des Kriegsjahres 1945, mit gerade mal 14 Jahren. Die Rechnung dafür hat er heute noch: 235,80 Reichsmark waren zu entrichten, dazu noch extra 95 Reichsmark an Dr. Rudolph, den leitenden Arzt.

Das Schlimmste, sagt Georg Hegele, war der Bombenalarm. Wenn die Sirenen heulten, wurden alle Patienten aus den Krankensälen eiligst in den Keller gebracht. Alle außer ihm: „Ich bin ja im Streckverband gelegen, mich konnten sie nicht wegbringen.“ Mit seiner Angst blieb der 14-Jährige zurück, buchstäblich ans Bett gefesselt, mutterseelenallein. „Wenn die erste Bombe auf Leutkirch fällt“, soll man ihm gesagt haben, „dann kommst Du auch in den Keller.“

Das war dann nicht mehr nötig, glücklicherweise fielen keine Bomben auf Leutkirch . Doch er hat auch so genug durchgemacht, der Bauernbub aus Frauenzell. Noch heute, 68 Jahre später, erinnert er sich haargenau an jenen 7. Januar 1945, seinen Unglückstag. „Wir sind mit dem Rennschlitten in den Wald Richtung Muna gefahren und wollten Daas holen.“ So nennt man im Allgäu das Reisig der Weißtanne, aus dem damals Grabschmuck gemacht wurde. Ein gutes Stück war Hegele bereits hinaufgestiegen auf den Baum, dann brach ein Ast, mürbe von der großen Kälte, und der Junge stürzte in die Tiefe.

Der Oberschenkel war gebrochen, das stellte die Rot-Kreuz-Schwester in Frauenzell schnell fest. Doch Krankenwagen oder ärztliche Hilfe gab es nicht. Also stabilisierte sie das Bein halbwegs mit Holzschindeln, legte einen Notverband an und bettete den Jungen, in dicke Wolldecken verpackt, wieder auf den Schlitten. Gute zehn Kilometer hatten die Pferde zu traben, über Luttolsberg nach Leutkirch, ins Krankenhaus. Bergauf, bergab, durch Schnee und klirrende Kälte. „Um 18 Uhr waren wir da“, sagt der heute 82-Jährige und ist sich sicher: „Der Fuß war bloß noch halb so lang.“

Anderntags kam dann besagter Streckverband ans Bein, ein, wenn man Hegele so hört, wahres Folterinstrument der Medizin. „Durchs Knie ging eine Stahlnadel“, schildert er und holt das sorgsam verwahrte, gut zehn Zentimeter lange Beweisstück aus der Schublade. „Die Nadel war mit einem Bügel an einem Seilzug auf Rollen befestigt“; so ließ sich das gebrochene Bein hochhalten. Doch damit nicht genug: Der Seilzug lief über ein Gestell hinter dem Bett, unten dran hingen Ziegelsteine. Die sollten das Bein ziehen und strecken. Je nach Heilungsfortschritt konnte der Arzt Zahl und Gewicht der Steine verändern, erklärt Hegele das Prinzip. Vier Wochen musste der 14-Jährige in dieser Zwangslage ausharren, in einem Krankensaal mit 29 Männern, viele davon Verwundete aus dem Krieg. Ein zweiter Saal mit 27 Betten war den Frauen vorbehalten. Für weitere vier Wochen wurde der Bub dann in den dritten Stock verlegt und humpelte dort auf „Stecken“ durch die Gänge. Krücken gab es nicht, die brauchten die Soldaten.

Und das Essen? Das war bescheiden: „Meistens Kohlrabisuppe“, sagt Georg Hegele. „Von Fleisch hat man nicht viel gesehen.“ Gut nur, dass die Mutter ihn mit selbstgebackenem „Gruibakucha“ versorgte. Gut auch, dass Schwester Mathilde da war, eine 18-Jährige Caritasschwester aus dem Rheinland. Sie umsorgte damals ihren jungen Patienten, sie ist Georg Hegele bis auf den heutigen Tag freundschaftlich verbunden. Und gut vor allem, dass es in Leutkirch ein Krankenhaus gab. Wer weiß, wohin die Pferde mit ihrem Patienten im Schlitten sonst hätten traben müssen.