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Skandalmotor

Wie ein 69-Jähriger aus der Region sich mit VW anlegt

Ravensburg / Lesedauer: 10 min

Nur wenige im Dieselskandal betrogene Kunden gehen gegen den Autobauer vor – dabei raten Anwälte zur Klage
Veröffentlicht:20.04.2018, 19:13

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Der Moment, in dem das ungute Gefühl von Werner Heister in Wut umschlug, war irgendwann im Februar 2016. In jenen Tagen erhielt der heute 69-Jährige einen Brief vom Technik-Service der Audi AG in Braunschweig. In dem Schreiben informierte der Autobauer den gebürtigen Pfälzer darüber, dass sein Audi Q3 mit einer Software ausgestattet ist, „durch die die Stickoxidwerte im Vergleich zwischen Prüfstandlauf und realem Fahrbetrieb verschlechtert werden“. Das Papier hat Heister ordentlich in einem Ordner abgeheftet. „Als der Brief damals angekommen ist, war ich echt sauer“, sagte er.

Werner Heister war sauer, weil sich vor mehr als zwei Jahren bestätigte, was der langjährige VW-Fahrer seit den Tagen im Spätsommer 2015 geahnt hatte, als Volkswagen und seine Marke Audi im Sumpf der Dieselaffäre versanken. Als nach und nach klar herauskam, dass der Wolfsburger Konzern Motoren mit betrügerischer Software ausgestattet hat, um vorzutäuschen, dass die Dieselwagen die Stickoxidgrenzwerte auf der Straße einhalten. Aber Werner Heister war nicht nur sauer, er nahm den Kampf auf, zog vor Gericht – und hat den größten Autobauer der Welt besiegt. Am Ende kaufte Volkswagen den manipulierten Q3 von Werner Heister zurück.

VW lenkte ein

Zwei Jahre währte der Kampf, erst Anfang des Jahres lenkte das Unternehmen ein, bot Werner Heister einen Vergleich an, um eine weitere Niederlage vor Gericht zu verhindern. Das ist auch der Grund dafür, dass Werner Heister eigentlich einen anderen Namen hat, denn VW verpflichtete ihn zu Stillschweigen. Der gelernte Kraftfahrzeugschlosser rückt auf der bunten Wachstuchdecke seines Esszimmertisches die gesammelten Unterlagen zurecht, die die Auseinandersetzung dokumentieren. „Jetzt müssen sie zahlen“, sagt er und tritt ans Fenster, von dem man auf die Dächer eines kleinen Dorfes im Landkreis Tuttlingen blickt. „Ich verstehe nicht, warum sie das nicht schon vor zweieinhalb Jahren gemacht haben, dann hätten sie mich als Kunden behalten.“

Werner Heister zieht vor Gericht

Werner Heister gehört zu den wenigen von Volkswagen betrogenen Dieselfahrern, die gegen den Konzern und seine Händler vor Gericht ziehen. Denn auch in seinen Audi Q3 hatte der Autobauer den Motor EA 189 eingebaut, der in seiner Euro-5-Ausführung in den allermeisten Fällen mit der illegalen Schummelsoftware ausgestattet ist, die erkennen kann, ob sich ein Auto auf der Straße bewegt oder ob es auf dem Prüfstand getestet wird – und so die Abgasreinigung entsprechend anpasst. Weltweit sind rund elf Millionen Autos betroffen, davon in Deutschland rund 2,25 Millionen – die Stammmarke VW genauso wie die Konzernmarken Audi, Seat und Škoda. „Es klagen aber nur weit weniger als zwei Prozent der betroffenen deutschen VW-Kunden“, schätzt Florian Günthner , Rechtsanwalt der Biberacher Kanzlei Hiller, Bartholomäus & Partner, der VW-Fahrer gegen den Autobauer vertritt. Dabei entwickele sich die Rechtsprechung gerade zugunsten der Kunden. „Ich rate Kunden, die einen EA-189-Motor in ihrem Fahrzeug haben, zu klagen“, sagt Günthner. „Ich würde es auf alle Fälle tun.“

Wütender Brief

Werner Heisters Kampf gegen VW begann mit einem wütenden Brief an den Autohändler, bei dem er seinen Q3 gekauft hatte. Er warf dem Verkäufer vor, einen Mangel arglistig verschwiegen zu haben. Das von Audi in Aussicht gestellte Software-Update für die Motorsteuerung lehnte Heister von Anfang an ab. „Keiner konnte mir sagen, wie der Motor mit der neuen Software umgeht. Zudem war mit erhöhtem Spritverbrauch und sinkender Leistung zu rechnen“, sagt Heister. Der Händler habe sich zu Einzelheiten nicht geäußert und mit einem vorformulierten Standardbrief geantwortet. Als sich Audi im Oktober 2016 wieder per Brief meldete, Heister mitteilte, dass die Software zum Update nun zur Verfügung stehe, und ihn aufforderte, die Aktualisierung der Motorsteuerung umgehend vorzunehmen, weil sonst die Stilllegung seines Autos drohe, reichte es dem Pfälzer endgültig. „Das klang wie Erpressung“, sagte Heister – und reichte Klage gegen den Autohändler ein. Wegen Betrug und arglistiger Täuschung.

Mehr als acht Monate später trafen sich Heister und der Händler vor dem Landgericht Heilbronn. Nachdem der Richter einen Vergleich angeregt hatte, den der Händler nicht akzeptierte, fiel im Spätsommer 2017 das Urteil. Es ist eindeutig. „Der Neukauf eines Pkw Audi Q3, Euronorm 5, mit dem Dieselmotor EA 189 ist rückabzuwickeln, da die beim Kauf eingebaut gewesene Software zu einem merkantilen Minderwert führt, der nicht nachgebessert werden kann“, schreibt der Richter.

Die Begründung des Urteils ist ein Frontalangriff auf Volkswagen – und auch auf die kontrollierende Behörde, das Kraftfahrt-Bundesamt. „Die Genehmigung des Software-Updates durch das Kraftfahrtbundesamt ist offensichtlich politisch motiviert und dient dem Schutz eines systemrelevanten Motorenherstellers (VW-Konzern).“ Die Genehmigung sage nichts darüber aus, „ob das Fahrzeug nach dem Software-Update die beim Verkauf zugesagte Beschaffenheit erreicht“. Vielmehr ist der Richter davon überzeugt, dass das Auto auch mit dem Software-Update die versprochenen Abgaswerte nicht erreicht, was ein „einfaches Gedankenexperiment“ zeige: „Die Ingenieure der Motorenentwicklung hätten, wenn sie durch das jetzige Update die Möglichkeit gesehen hätten, die zugesagten Abgaswerte zu erreichen, dieses Update gleich bei der Produktion des Motors eingebaut.“

Das System „kann nur „als flächendeckendes Betrugssystem bewertet werden, das zu einem erheblichen Vertrauensverlust gegenüber Dieselmotoren des Herstellers VW führt, dass ein nicht nachbesserbarer merkantiler Minderwert nach den Gesetzen des freien Marktes offensichtlich gegeben ist“.

Werner Heister geht in Berufung

Für Werner Heister ist es ein eindeutiger Sieg – dennoch geht der Pfälzer in Berufung: Aus seiner Sicht hatte der Richter die Gebühr für die Nutzung des Q3 seit dem Kauf zu hoch angesetzt. Doch bevor es zu einer Berufungsverhandlung vor dem Oberlandesgericht Stuttgart kam, bot VW Heister einen Vergleich an. Der Autobauer nahm den Audi Q3 gegen die Erstattung des vollen Kaufpreises zurück – Werner Heister musste lediglich die Nutzungsgebühr für die bislang mit dem Auto gefahrenen Kilometer zahlen.

Die plötzliche Einsicht des Weltkonzerns verwundert Florian Günthner nicht. Der Biberacher Anwalt sieht darin eine Taktik, die das Ziel hat, auf alle Fälle eine Entscheidung vor einem Oberlandesgericht zugunsten der Kläger zu verhindern. „VW hat Angst, dass ein Oberlandesgericht die Ansprüche auf eine Rückabwicklung als berechtigt bezeichnet, denn dann wären alle Gerichte des fraglichen Gerichtsbezirks an die Entscheidung gebunden – und alle VW-Fahrer könnten gefahrlos klagen“, sagt Günthner.

„Besondere Verwerflichkeit“

Auf Landgerichtsebene gibt es bereits mehrere Urteile, die wie das Gericht Werner Heisters im Sinne der gegen VW klagenden Kunden entschieden haben. So bezeichnete das Landgericht Karlsruhe (3 O 139/16) den Einbau einer Software zur unterschiedlichen Steuerung der Abgasanlage im prüf- und Echtbetrieb als „Mangel des Fahrzeugs“. Weiter heißt es: „Die Lieferung eines mangelhaften Fahrzeugs ist eine sittenwidrige Schädigung. Die Installation der Software erfolgte mit dem Ziel, die Käufer zu täuschen und durch den Absatz der Fahrzeuge Gewinn zu erwirtschaften. Diese Form des Gewinnstrebens begründet die besondere Verwerflichkeit.“ Die Landgerichte Frankfurt (2-3 O 104/17) und Berlin (9 O 103/17) entschieden, dass auch ein erfolgtes Update nichts an den Schadensersatzansprüchen ändert, weil sich der beim Kauf vorhandene Betrug nicht nachträglich beseitigen lässt. Die gleiche Auffassung vertritt auch das Landgericht Ravensburg.

Volkswagen vertritt die gegenteilige Meinung. „Wir sind der Ansicht, dass es für kundenseitige Klagen im Zusammenhang mit der Dieselthematik keine Rechtsgrundlage gibt“, sagt VW-Sprecher Nicolai Laude. „Diese Thematik berührt nicht die Sicherheit oder die Fahrbereitschaft der betroffenen Fahrzeuge. Sie können uneingeschränkt im Straßenverkehr genutzt und auch weiterhin verkauft werden.“ Um Verzeihung gebeten habe die Volkswagen AG dennoch, darauf verweist Laude ebenfalls. „Bereits zu Beginn der Aufarbeitung der Dieselkrise haben sich der Vorstandsvorsitzende, weitere Vorstandsmitglieder sowie der Aufsichtsratsvorsitzende für das Fehlverhalten, das zur Dieselkrise geführt hat, öffentlich entschuldigt“, erklärt Laude. Nach Angaben des Konzerns sind rund 16 000 Klagen wegen des Skandalmotors EA 189 bei Volkswagen in Deutschland anhängig. Damit gehen nur 0,7 Prozent der betroffenen Fahrer gegen den Autobauer vor.

Die Zeit läuft für VW

Trotz der guten Aussichten scheuen viele VW-Fahrer den Kampf gegen den Weltkonzern – und das ist der Grund, warum Volkswagen nicht freiwillig alle Besitzer von EA-189-Motoren entschädigt. „Die Rückabwicklung der Kaufverträge, zu denen Gerichte VW verdonnern, kosten den Autobauer viel weniger im Vergleich zu einer pauschalen Entschädigung aller Betroffenen“, sagt Günthner. „Wirtschaftlich agiert VW sehr geschickt.“ Hinzu kommt: Ende des Jahres – also drei Jahre nach Bekanntwerden des Betrugs – verjähren auch die Vorwürfe gegen VW, die gegen die Händler sind mittlerweile schon obsolet. „Volkswagen lacht sich ins Fäustchen, weil sich kaum einer traut zu klagen“, sagt Günthner. Die Zeit läuft für den Wolfsburger Konzern.

Werner Heister hat sich getraut, aber er triumphiert nicht. Nach seiner Autoschlosserlehre in einer VW-Werkstatt in Kaiserslautern hat er sechs Käfer gefahren, in allen Farben. „In der Berufsschule habe ich mich wegen der Frage geprügelt, was denn die beste Automarke ist“, sagt der Pfälzer. Er macht eine Pause. „Ich bin hart im Nehmen, mir hätte es gereicht, wenn sie mich angerufen und gesagt hätten, wir haben einen Scheißfehler gemacht, dann wäre es für mich okay gewesen.“ Haben Sie nicht. Jetzt fährt Werner Heister einen Japaner. Einen Nissan Qashqai.

Der Volkswagen-Konzern im Strudel der Diesel-Ermittlungen

Der Tag, der bei Volkswagen alles veränderte, war der 19. September 2015, als die US-Umweltbehörde EPA den Vorwurf öffentlich machte, dass der Autobauer bei der Abgasreinigung von Dieselautos systematisch betrogen hatte – und der Autobauer den Betrug zugeben musste. Der Aktienkurs bricht ein, Vorstandschef Martin Winterkorn kündigt eine umfassende Aufklärung an und muss dann doch seinen Posten räumen, nachdem nach und nach herauskommt, dass der Weltkonzern den Skandalmotor EA 189 weltweit in rund elf Millionen Autos eingebaut hatte.

Nach Berechnungen des „Handelsblatts“ kostet der Betrug VW bislang schon mehr als 25 Milliarden Euro, den Hauptanteil von 22,6 Milliarden Euro muss der Autobauer für Strafen und Zivilvergleiche in Nordamerika zahlen. „Während bei uns der Geschädigte bei einem Schadenersatz so gestellt werden muss, als wäre der Schaden nicht passiert, geht es in den USA nicht nur um eine Wiedergutmachung des Schadens, sondern auch um eine Bestrafung des Unternehmens“, erläutert Rechtsanwalt Florian Günthner die Unterschiede.

Aktionäre klagen auf Schadenersatz

Volkswagen muss sich aber nicht nur mit Zivilklagen auseinander- setzen. Die Staatsanwaltschaft Braunschweig ermittelt auch in strafrechtlicher Hinsicht wegen des Verdachts betrügerischer Handlungen und Verstößen gegen den unlauteren Wettbewerb. „Die Ermittlungen dauern an. Es ist offen, ob sie noch in diesem oder erst im nächsten Jahr abgeschlossen werden können“, sagt Oberstaatsanwalt Klaus Ziehe. Beschuldigte nennt der Sprecher der Staatsanwaltschaft Braunschweig nicht, auch Volkswagen selber nennt die Namen der Manager nicht, die die Entwicklung und den Einbau des Skandalmotors EA 189 in Auftrag gegeben haben. Außerdem klagen Aktionäre auf Schadenersatz.

Ihr Vorwurf: Der Vorstand wusste schon viel früher von dem Betrug und hätte die Nachricht in einer ad-hoc-Mitteilung weit vor dem 15. September 2015 öffentlich machen müssen. So verloren bestimmte VW-Papiere kurz nach der Aufdeckung des Skandals durch die US-Behörden fast die Hälfte ihres Wertes. Insgesamt belaufen sich die Forderungen der Anleger auf mehr als neun Milliarden Euro. Ende 2017 hatte die Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz zudem durchgesetzt, dass ein Sonderermittler bei VW die genauen Hintergründe der Affäre prüfen darf.

Neben Volkswagen gibt es auch Ermittlungen gegen andere Automobilkonzerne, darunter BMW und Daimler. „Doch nur bei Volkswagen und dem Motor EA 189 ist bereits klar, dass man von einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung sprechen kann“, sagt Anwalt Florian Günthner. „Bei den übrigen Konzernen sind die Ermittlungen einfach noch nicht so weit.“