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Arbeitsweg

Komplett im Homeoffice: Firmen bieten sich neue Chancen - und Bewerbern ebenso

Villingen-Schwenningen / Lesedauer: 8 min

Mit Homeoffice-Angeboten werben Unternehmen um Fachkräfte – Ein Allheilmittel ist die neue Arbeitswelt nicht
Veröffentlicht:30.05.2022, 05:00

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Der Arbeitsweg von Lea Tobies hat eine Länge von 320 Kilometern – er reicht von ihrem Wohnort in Villingen-Schwenningen zu ihrem Arbeitgeber in Nürnberg . Und trotzdem sind es gerade einmal 20 Schritte, die ihr Schlafzimmer von ihrem Schreibtisch trennen. Möglich ist das, weil die studierte Steuerfachkraft dauerhaft aus dem Homeoffice arbeiten kann.

Das Gebäude ihres Arbeitgebers, des Softwareunternehmens Datev, hat sie noch nie betreten – nicht einmal zum Bewerbungsgespräch.

Damit ist sie zwar nicht die Einzige, aber zumindest eine Ausnahme auf dem Arbeitsmarkt. Doch der Anteil der Menschen, die vollständig im Homeoffice arbeiten, dem sogenannten Full Remote, wachse an, sagt Josephine Hofmann , Leiterin Zusammenarbeit und Führung am Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation in Stuttgart.

Komplett im Homeoffice: Arbeitsmodell mit Zukunft

Für eine aktuelle Studie über die Corona-Pandemie und ihre Auswirkungen auf eine neue Arbeitswirklichkeit befragte die Wissenschaftlerin fast 200 Unternehmen. 15 Prozent gaben an, dass sie von ihren Mitarbeitenden nicht mehr erwarten würden, in die Nähe des Unternehmenssitzes zu ziehen. „Das ist ein Thema, das auf jeden Fall Zukunft haben wird“, sagt Hofmann der „Schwäbischen Zeitung“.

Das mache sich auch bei der Datev bemerkbar, sagt Unternehmenssprecher Till Stüve. „Wir können bestätigen, dass vermehrt auch Bewerberinnen und Bewerber aus dem gesamten Bundesgebiet nachfragen, ob ein Umzug nach Nürnberg zwingend ist“, sagt er. Die Personalabteilung verzeichne dadurch mehr und vielfältigere Bewerbungen.

„Die Unternehmen haben einen größeren Radius, in dem sie suchen können“, erklärt Arbeitsexpertin Hofmann. Dadurch hätten sie mehr Möglichkeiten, die passenden Mitarbeiter zu finden. Auch wenn sie dann vermehrt mit Unternehmen in ganz Deutschland in Konkurrenz stehen würden.

Schlechtere Karten ohne Homeoffice

Den Suchradius zu erweitern, bringe fast nur Vorteile mit sich, sagt die Wissenschaftlerin. Viele Bewerber würden mittlerweile von ihren potenziellen Arbeitgebern zumindest die Möglichkeit auf Homeoffice erwarten – wenn auch nicht, um dauerhaft von zu Hause aus arbeiten. Unternehmen, die diese Option nicht anbieten würden, haben auf dem Arbeitsmarkt schlechtere Karten, sagt Hofmann.

 Mitarbeiterin bei der Ausarbeitung einer Präsentation im heimischen Esszimmer: Die Anfragen von Bewerbern nach 100 Prozent Homeoffice nehmen zu – eine Auswirkung der Pandemie.

Tobies hat in ihrer Bewerbung erwähnt, dass sie durchgehend von zu Hause aus arbeiten möchte. „Ich hätte auch nichts dagegen gehabt, zur Einarbeitung eine Zeit lang vor Ort zu sein“, sagt sie. Das sei aber nicht nötig gewesen. Sie habe schon länger mit dem Gedanken gespielt, sich bei ihrem jetzigen Arbeitgeber zu bewerben, sagt die Steuerfachkraft.

Unternehmen brauchen auf jeden Fall sehr gute Argumente, warum Homeoffice nicht möglich ist.

Lea Tobies

Doch weil ein Umzug nicht infrage kam, fehlte Tobies die Fantasie, wie das Arbeiten hätte aussehen können. „Das war für mich undenkbar, dass ich im Schwarzwald bei der Datev in Nürnberg arbeite.“ Doch dann kam die Corona-Pandemie und mit ihr eine neue Arbeitswelt.

Win-win-Situation für Arbeitnehmer und Arbeitgeber

Dass Homeoffice jetzt so umfänglich zur Verfügung stehe, sei eine direkte Auswirkung der Pandemie, sagt Expertin Hofmann. Arbeitnehmer, aber auch Arbeitgeber, hätten festgestellt, welche Möglichkeiten es in Bezug auf mobiles Arbeiten gebe.

„Unternehmen brauchen auf jeden Fall sehr gute Argumente, warum Homeoffice nicht möglich ist“, sagt sie. Ob dies auch nach der Pandemie so weitergeführt werde, müsse sich zeigen. Ein großer Teil der Unternehmen wolle aber auch in Zukunft nicht auf Arbeit von zu Hause aus verzichten.

 Mitarbeiterin bei der Ausarbeitung einer Präsentation im heimischen Esszimmer: Die Anfragen von Bewerbern nach 100 Prozent Homeoffice nehmen zu – eine Auswirkung der Pandemie.

Beim Friedrichshafener Automobilzulieferer ZF gilt von Juni an eine neue Homeoffice-Regelung. Dann sollen die Mitarbeitenden bis zu 60 Prozent von zu Hause aus arbeiten können – wenn es ihre Aufgaben zulassen. Bis Ende Mai ist Homeoffice noch zu 100 Prozent möglich. Vor der Pandemie hatte das Unternehmen bereits bis zu 50 Prozent Homeoffice erlaubt.

„Das mit dem mobilen Arbeiten geht“, sagt Sprecher Jochen Mayer. „Aber der Austausch vor Ort ist wichtig.“ Er beobachte aber mittlerweile immer wieder Stellenanzeigen von Unternehmen, die Full-Remote-Arbeitsplätze anbieten würden, sagt er: „Wie sich das entwickelt, wird spannend sein in den nächsten Jahren.“

Die Arbeitswelt verändere sich momentan stark, sagt Sandra Scherzer, Sprecherin des Baumaschinenhändlers Zeppelin: „Ob es immer in Richtung Homeoffice geht, das weiß ich nicht.“

5-Tage-Woche im Homeoffice möglich

Das Friedrichshafener Unternehmen hat in einer Betriebsvereinbarung festgelegt, dass Mitarbeitende in der Woche bis zu fünf Tage von zu Hause aus arbeiten können. Allerdings müsse das mit der Führungskraft abgesprochen sein und immer individuell entschieden werden, sagt Scherzer. Auch wer weiter weg wohne, müsse immer wieder mit Einsätzen vor Ort rechnen. Verlässliche Zahlen, wie viele der Mitarbeitenden diese Möglichkeit wahrnehmen, gebe es nicht.

Seit vergangenem Jahr gibt es auch bei dem Nürnberger Unternehmen Datev eine neue Betriebsvereinbarung, die allen Mitarbeitenden freistellt, ob sie im heimischen oder firmeneigenen Büro arbeiten möchten – vorausgesetzt, der Job lasse sich im Homeoffice erledigen, ergänzt Unternehmenssprecher Stüve.

Und das gesamte Team entscheide, wie es zusammenarbeiten wolle; so auch bei Tobies im Team. Es gebe durchaus Kollegen, die ins Büro fahren würden, sagt sie. Doch viele würden von zu Hause aus arbeiten. Das Team stehe über Videoanrufe, Mails und Telefon immer in Kontakt.

Arbeitgeber 400 Kilometer entfernt vom Wohnort

So ist es auch möglich, dass die 30-Jährige, die seit fast zwei Monaten bei der Datev angestellt ist, online eingearbeitet wird – von einer Kollegin aus dem mehr als 400 Kilometer entfernten Neustadt an der Waldnaab nahe der bayerisch-tschechischen Grenze. Ihre technischen Arbeitsgeräte bekam sie per Post, erzählt Tobies: „Die habe ich dann mit einem Kollegen zusammen online eingerichtet.“

Ich habe mich gleich am ersten Tag voll aufgehoben gefühlt.

Lea Tobies

In ihren bisherigen Jobs in Steuerkanzleien sei es meist schwer möglich gewesen, im Homeoffice zu arbeiten, sagt sie. Der Vorteil in ihrem jetzigen Job als Betreuerin im Kundenservice sei, dass sie völlig papierlos arbeiten könne. Als Kundenbetreuerin telefoniere sie vor allem und schreibe Mails.

Kaffeklatsch am Bildschirm

Einsam fühle sie sich im heimischen Büro nicht, sagt die Schwarzwälderin und ergänzt: „Ich habe mich gleich am ersten Tag voll aufgehoben gefühlt.“ Das tägliche Miteinander unter den Kollegen sei im Homeoffice aber ein anderes als in Präsenz. Deshalb gebe es in ihrem Team einmal die Woche einen Kaffeeklatsch – und da werde explizit nicht über die Arbeit geredet.

Angestellte im Homeoffice zu betreuen, koste viel Aufwand, sagt Arbeitsexpertin Hofmann. Die Führungskräfte müssten viel intensiver mit ihren Teammitgliedern reden: „Früher wurde vieles so nebenher kommuniziert.“ Deshalb erfordere auch die Einarbeitung im Homeoffice wesentlich mehr Planung.

Auch bei langjährigen Mitarbeitenden kann das Homeoffice zur Herausforderung werden. In einer Studie des Softwareentwicklers Atlassian geben 41 Prozent der Arbeitnehmer an, weniger Brainstorming mit Kollegen zu betreiben – die Kreativität leide darunter. Den Eindruck bestätigt auch Hofmann in ihrer Studie. Fast die Hälfte der Unternehmen geben dort an, dass der Wissensaustausch schwerer geworden sei.

Die Schattenseiten von Homeoffice

Mehr als 60 Prozent sagen sogar, dass die Mitarbeiter im Homeoffice schlechter vernetzt seien. Aus Sicht von mehr als einem Drittel der Unternehmen habe auch das Interesse und die Identifikation der Beschäftigten mit dem Unternehmen abgenommen. Die Unternehmen müssten sich mit speziellen Aktivitäten als sozialen Ort der Begegnung herausstellen, heißt es in der Studie.

„Das Büro als Arbeitsplatz muss seine Rolle neu definieren“, sagt Till Stüve. Es bestehe nicht mehr aus einem Schreibtisch in einem Unternehmen. „Das Büro ist mittlerweile ein Ort, wo die Unternehmenskultur spürbar wird.“ Dazu gehöre auch, die Eigenverantwortung zu steigern. Die Mitarbeitenden sollen selbst entscheiden können, wo sie am sinnvollsten arbeiten, sagt er.

Für Lea Tobies ist das zu 100 Prozent das Büro zu Hause. Im Juni wird sie das Unternehmensgebäude von Datev, das sie bisher nur von Bildern kennt, kennenlernen. Da fährt die Schwarzwälderin zum ersten Mal die mehr als 300 Kilometer nach Nürnberg zum Unternehmen – zu einer Firmenfeier. Ein besonderer Tag in ihrem Kalender: „Ich freue mich schon darauf, das Team persönlich kennenzulernen.“