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Orbán pflegt die Urangst der Ungarn vor Fremdherrschaft

Budapest / Lesedauer: 4 min

800 Jahre lang wurde das Land von fremden Mächten bestimmt – Das weiß die Regierung in ihrem Kampf gegen Brüssel zu nutzen
Veröffentlicht:01.11.2018, 21:37

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Nach der demokratischen Wende von 1989 erfolgte in Ungarn im April 2010 eine zweite – die Abkehr Viktor Orbáns von der liberalen Demokratie. Seine Mitgliedschaft in der EU stellt Ungarn inzwischen selbst infrage.

Ungarn gelten als selbstbewusste Anpassungskünstler. „Auch wenn der Ungar sich als Emigrant in einem Gastland befindet, betrachtet er sich als Ausgangs- und Mittelpunkt. Ausländer sind immer die anderen“, charakterisierte einmal der Schriftsteller György Kövary launig seine Landsleute. 2009 starb Kövary 87-jährig in Wien – als Österreicher.

Doch innerhalb eigener Grenzen fühlen sich Ungarn isoliert und verunsichert – als Europäer ohne europäische Herkunft, mit ihrer im Asiatischen wurzelnden Sprache, als homogene Nation verletzbar. Deshalb sitzt in ihrer Seele die Abneigung gegen Ein- und Zuwanderer tiefer als bei anderen Europäern.

Die Urangst vor Fremdherrschaften, die nach rund 800 Jahren – nach Mongolen, Türken, Habsburgern, Nazis und Kommunisten – erst 1989 zu Ende gingen, ist die eigentliche Machtbasis des seit acht Jahren regierenden Premierministers Viktor Orbán. Seine rechtsnationale Partei Fidesz (Glaube) versteht sich als Synonym für Heimat und Nation. Und „Heimat kann nicht in Opposition sein“, begründet Orbán seinen Anspruch auf Allmacht.

Dass keinerlei äußere Feinde sichtbar sind und kaum Ausländer im Land leben, die das „Ungartum“ bedrohen, kümmert Orbán wenig. Feinde zur Dauermobilisierung der Massen kann man erfinden: Seit Jahren ist es die EU-Kommission in Brüssel, die Ungarn bevormunden, seiner nationalen Identität berauben und mit Migranten überfluten wolle. Richtig ist, dass die ungarischen Erwartungen nach dem EU-Beitritt 2004 eher enttäuscht wurden. Der wirtschaftliche Aufschwung hat sich auf das Einkommen kaum ausgewirkt, der Wohlstand stagniert bis heute bei etwa der Hälfte des EU-Durchschnitts.

Viele Junge verlassen das Land

Viele Ungarn scheinen jedoch an Orbáns Wort zu zweifeln, sein System zum „Schutz der nationalen Wirtschaft“ gegen gierige ausländische Konzerne – zu denen er die deutsche Autoindustrie im Land wegen ihrer Exportstärke explizit nicht zählt – werde ihren Wohlstand endlich mehren. Während der acht Orbán-Jahre haben Schätzungen zufolge 600 000 überwiegend junge Leute, Fachkräfte und Akademiker das Land verlassen; das sind rund 13Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung. Und trotz des kostspielig inszenierten Feldzugs gegen Brüssel weisen Umfragen regelmäßig aus, dass 70Prozent der stimmberechtigten Ungarn in der EU bleiben wollen.

Beim Thema Korruption zielt die Wut der Mehrheit lediglich auf Linke und Liberale, die zu ihrer Regierungszeit den Staat ordentlich geplündert haben. Orbáns Kleptokraten hingegen werden mit dem Hinweis entlastet, alle Politiker seien korrupt. 80 Prozent der öffentlichen Aufträge werden parteieigenen oder nahestehenden Firmen sowie befreundeten Oligarchen zugeschanzt, womit die Korruption stärker begünstigt wird als je zuvor.

Justiz und Medien unter Kontrolle

Ein Rechtsstaat im europäischen Sinn ist Ungarn nach 1989 nicht geworden. Das ist vor allem den postkommunistischen Sozialdemokraten anzulasten. Doch statt den Rechtsstaat zu stärken, begann Orbán 2010 seine Alleinherrschaft zu installieren, der er später den Namen „illiberale Demokratie“ gab. Nach mehreren Verfassungsänderungen ist die Gewaltenteilung praktisch aufgehoben, das Parlament mit Fidesz-Zweidrittelmehrheit unter Kontrolle der Regierung, ebenso weitgehend die Justiz und das Wirtschaftssystem sowie die öffentlichen Medien; die privaten wurden wirtschaftlich ausgehungert, von Orbáns Oligarchen aufgekauft, eingestellt oder auf Linie getrimmt. Die Folge: 80 Prozent der Ungarn bekommen wenig anderes zu hören und zu lesen als die Meinung der Regierung.

Der Politologe András Körösényi nennt das Orbán-System schlicht „Führerdemokratie“. Zwar gibt es freie Wahlen in Ungarn, aber sie sind „nicht fair“, wie Beobachter der OSZE nach der letzten Abstimmung im April befanden. Denn das veränderte Wahlrecht begünstigt extrem Orbáns Fidesz: Dass eine Partei dreimal hintereinander die Zweidrittelmehrheit erobert, ist weltweit wohl einzigartig.

Die EU-Kommission ist alarmiert, wirkt aber genauso zahnlos wie die ungarische Opposition: Ein Strafverfahren ist mangels Einheit der Mitgliedstaaten ebenso unwahrscheinlich wie ein freiwilliger Austritt Ungarns. Denn ohne die EU-Förderung von jährlich vier Milliarden Euro, sind Experten überzeugt, wäre der Orbán-Staat längst bankrott gegangen.