StartseiteRegionalBodenseeTettnangVom Stall aufs Stockerl

Startchance

Vom Stall aufs Stockerl

Tettnang / Lesedauer: 3 min

Verena Bentele erzählt bei einer Tagung zum „Lernort Ökohof“ von ihrer Jugend auf dem Bio-Hof
Veröffentlicht:08.01.2014, 14:50

Artikel teilen:

Wer blind in einem Sechs-Häuser-Dorf am Bodensee geboren wird, hat auf den ersten Blick nicht die besten Startchancen. Ganz anders empfindet das Verena Bentele. Die ehemalige Biathletin erzählte im Dezember bei der bundesweiten Tagung „Chancen für den Lernort Ökohof“ – veranstaltet von der evangelischen Jugend im ländlichen Raum – gleichermaßen persönlich wie professionell über ihre Karriere „von der Kindheit auf dem Bio-Hof bis zu paralympischem Gold“. Fazit: Die Bauernhofpädagogik bringt Menschen zum Blühen.

Der elterliche Demeter-Betrieb in Wellmutsweiler bot ihr und den zwei älteren Brüdern (einer sehend, einer blind) ein ideales Lernumfeld. Alle drei Geschwister hatten viel Freiraum, um mit dem Bobbycar über den Hof zu düsen oder später auf dem Fahrrad herumzukurven. Die viel beschäftigen Eltern haben ihre Kinder schnell auf Selbstständigkeit trainiert. Vieles ging. Nur die Straße war tabu. „Wo die anfängt konnten wir am Geländeverlauf erkennen“, erinnert sich Verena Bentele.

Wie alle Bauernkinder mussten die blinden Geschwister auf dem Hof mit anpacken. Schon aus Gerechtigkeit dem sehenden Bruder gegenüber. So haben sie Kirschen gepflückt, Äpfel geerntet und in der Küche geholfen. Das hat nicht immer Spaß aber stark gemacht.

Außer von den Eltern haben sie viel von Katze, Ziege und Co. gelernt. Als das lang ersehnte Pony auf den Hof kam, hat Verena ihr halbes Leben im Stall verbracht. Im Sommer musste die damals Neunjährige ihr Pony sogar selbst von der steilen Weide holen. „Da bin ich solange herumgelaufen, bis ich es fressen gehört habe. Und dann sollte ich noch vorne und hinten unterscheiden können“, lacht die Tierfreundin und überzeugte Vegetarierin. Die vielen Herausforderungen in Feld und Flur haben Selbstvertrauen gegeben. Umso härter trafen Verena und ihren Bruder der Umzug in die Blindenschulen im Schwarzwald. Inklusion war damals noch die Ausnahme. Dort durften die Kinder nicht einmal auf den Fluren rennen - zu gefährlich. Immerhin konnte sie dort Skilanglauf lernen. Zunächst eher skeptisch. „Für mich war das ein Sport, den meine Oma macht, um im Winter Kaffeetrinken zu gehen.“ Viel cooler waren die kurzen Skiurlaube der Familie in der Schweiz. Zwischen den Beinen ihrer Eltern ist sie die Hänge hinunter gerauscht. Dass ihr sehender Bruder schneller war, hat ihren Wettkampfgeist entfacht. Die Grenzen ein bisschen nach vorne zu verschieben, hat sie auf dem Bauernhof gelernt. Aber auch Vertrauen in andere Menschen zu haben. Ohne einen topfitten Begleitläufer, der sie auf Kurs hält, hätte sie ihre zwölf Goldmedaillen nie bekommen. Seit ihrem Studium lebt Verena Bentele in München. Dort arbeitet die Germanistin als Personaltrainerin und kann mit Bus und Bahn überall hinkommen. Die Wege ins Büro und zu Freunden lernt sie auswendig. Falls sie Hilfe braucht, eine Hausnummer sucht, kann sie fragen. Das selbstbestimmte Leben will sie nicht mehr missen. So oft wie möglich fährt sie nach Hause, um Kraft zu tanken für neue Aufgaben. Im Februar erscheint ihr erstes Buch „Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser“. Selbstverständlich ist sie bei den Paralympischen Winterspielen in Sotschi dabei. Allerdings als ARD-Expertin. Für den sportlichen Kick sorgt der Radmarathon von Trondheim nach Oslo: „Für die 540 Kilometer habe ich dieses Jahr 22 Stunden und 54 Minuten gebraucht, nächstes Jahr möchte ich das schneller als 21 Stunden fahren.“