StartseitePolitikLinken-Spitzenkandidaten fordern eine sozialere EU

Mindestlohn

Linken-Spitzenkandidaten fordern eine sozialere EU

Berlin / Lesedauer: 6 min

Die Linken-Spitzenkandidaten Özlem Alev Demirel und Martin Schirdewan fordern ein sozialeres Europa
Veröffentlicht:29.04.2019, 22:09

Artikel teilen:

Die Europäische Union rüstet auf, statt sich um die Menschen zu kümmern. Das sagen die Spitzenkandidaten der Linken für die Europawahl, Özlem Alev Demirel und Martin Schirdewan, im Gespräch mit André Bochow. Sie fordern einen europäischen Mindestlohn und eine höhere Besteuerung der Konzerne.

Frau Demirel, Herr Schirdewan, die Wähler sollen Europa wichtig nehmen und nun nimmt Großbritannien an der Wahl teil. Welchen Eindruck macht das?

Özlem Alev Demirel: Natürlich ist das merkwürdig, wenn die Briten jetzt mitwählen und dann demnächst aus der EU austreten. Aber schlimmer wäre der ungeordnete Brexit. Und wenn man sich die Zeit nehmen will, einen geordneten EU-Austritt Großbritanniens im Sinne der Bürger hier und dort zu organisieren, dann muss man es eben hinnehmen.

Martin Schirdewan: Ich glaube auch, dass eine Beteiligung an der Europawahl noch einmal eine Abstimmung über den Brexit sein könnte.

Sie sind die Spitzenkandidaten der Linken für die Europawahl und – mit Verlaub – bislang kennt Sie niemand. Empfinden Sie das als Manko?

Demirel: Im Gegenteil. Es würde auch anderen Parteien gut zu Gesicht stehen, mit neuen Leuten anzutreten. Früher hieß es in der Politik: „Hast Du einen Opa, dann schick ihn nach Europa.“ Damit muss Schluss sein. Und es ist doch auch für die Journalisten schön, neue Leute kennenzulernen.

Das stimmt.

Schirdewan: Außerdem werden wir ja bekannter. Mit jedem Interview.

Was ist denn das Thema der Linken? Warum soll man Sie in das Europäische Parlament wählen?

Demirel: Weil wir am konsequentesten für soziale Gerechtigkeit und für Abrüstung eintreten. Die EU will aber aufrüsten. Und wir kämpfen vor allem für die Freiheit der Menschen.

Können Sie das erklären?

Demirel: Es geht nicht um die Freiheit der Konzerne, sondern zum Beispiel um die Bewegungsfreiheit für alle. Nur wenn wir einen europäischen Mindestlohn und andere soziale Standards durchsetzen, kann auch jeder von seinem Recht Gebrauch machen, sich frei in der EU zu bewegen. 112 Millionen Menschen in der EU sind aber arm.

Die soziale Frage ist wieder in den Mittelpunkt der politischen Debatte gerückt. Warum profitieren die Linken davon so wenig? Ihre Umfragewerte sind wie festgenagelt.

Demirel: Umfragen sind noch keine Wahlen.

Was wäre denn ein gutes Ergebnis bei der Europawahl?

Demirel: Wir wollen auf jeden Fall stärker werden als bei der letzten Wahl.

Mehr als 7,4 Prozent.

Demirel: Genau. Wir wollen mehr als sieben Abgeordnete ins Europäische Parlament bringen.

Die Linken kritisieren die EU massiv. Bei manchen hat man den Eindruck, sie würden die EU am liebsten abschaffen. Was stört Sie so?

Schirdewan: Wir nehmen uns die Freiheit, dort Kritik zu äußern, wo sie berechtigt ist. In Brüssel klopfen 27 000 Lobbyisten an den Parlamentsbürotüren an. Da muss sich etwas ändern. Und wir haben alternative politische Angebote für eine neue, gelingende europäische Einigung. Hin zu einer sozialen Union, zu einer Union der Steuergerechtigkeit, zu einer ökologischen EU, ohne Aufrüstung und mit Seenotrettung von Flüchtlingen.

Die Skepsis gegenüber der EU ist in Ostdeutschland noch größer als im Westen. Haben Sie dafür Verständnis?

Schirdewan: Natürlich haben die Ostdeutschen zwiespältige Erfahrungen gemacht. Einerseits ist die ostdeutsche Wirtschaft ohne Schutz in die EU gekommen. Andererseits hat Ostdeutschland sehr von EU-Hilfen profitiert. Allerdings droht nun das Problem, dass die Förderung wahrscheinlich erheblich reduziert wird. Aber ich will auch sagen: Die Skepsis gegenüber Europa hat in erster Linie mit unsozialer, neoliberaler Politik zu tun. Und zwar überall in Europa. Nicht zuletzt in Großbritannien.

Demirel: Auch die Steuergerechtigkeit bewegt die Menschen sehr. Die fragen, warum muss ich als Angestellter, als Pflegerin oder als Bäckermeister so hohe Steuern zahlen und die internationalen Großkonzerne stehlen sich aus der Verantwortung. Da werden die Leute doch zu Recht wütend. Oder es werden die Fonds für die strukturschwachen Gebiete zusammengestrichen und auf der anderen Seite werden Milliarden für Killerdrohnen ausgegeben oder 6,5 Milliarden Euro, um Brücken und Straßen panzerfest zu machen. Das ist doch irre.

Manche haben den Eindruck, die EU will mit Umweltauflagen die deutsche Autoindustrie kaputtmachen.

Demirel: Ich sehe vor allem, dass wieder die Konzerne gepampert werden. Die haben in Sachen Diesel betrogen und die Autofahrer werden zur Kasse gebeten. Die Umweltauflagen sind völlig in Ordnung. Aber die einzuhalten, ist Aufgabe der Industrie. Sie haben betrogen, sie müssten zahlen!

Auf Ihrem Bonner Parteitag wurde die Idee von der Europäischen Republik verworfen. Braucht man Ihrer Meinung nach eine solche Vision?

Schirdewan: Wir haben doch eine Vision. Wir wollen, dass jede Europäerin und jeder Europäer ein gutes Leben führen kann. Ohne Existenzängste. Mit Perspektiven für alle. Und wir brauchen für Klimapolitik, Kampf gegen rechts und für die soziale Frage europäische Lösungen. Und ob das, was da am Ende herauskommt, Europäische Republik heißt oder irgendwie anders, das ist mir einigermaßen schnuppe.

Herr Schirdewan, Sie haben einen berühmten Großvater. Karl Schirdewan war ein kommunistischer Antifaschist und Gegner Walter Ulbrichts in der DDR. Nervt es Sie, immer wieder auf ihn angesprochen zu werden?

Nein. Das ist Teil meiner Familiengeschichte. Und ich habe von meinem Großvater vor allem das klare, antifaschistische Bekenntnis übernommen. Aber ich bin eine eigenständige politische Persönlichkeit und ich denke, so werde ich auch wahrgenommen.

Frau Demirel, als Sie 1989 nach Deutschland kamen, waren Ihre Großeltern schon hier. Welches Deutschlandbild haben sie Ihnen vermittelt?

Na ja, ich habe selbst gesehen, wie es der ersten türkischen Einwanderergeneration erging. Mein Großvater hat geschuftet, bis er mit Ende 50 den ersten Herzinfarkt bekam. Meine Oma hat geputzt.

Und Sie haben ihr geholfen.

Ich habe mein erstes Geld ebenfalls mit dieser harten Arbeit verdient. Und die entsprechenden Diskriminierungserfahrungen gemacht. Die Türken waren als billige Arbeitskräfte geholt worden und sollten eigentlich gar nicht bleiben. Von Integration hat damals niemand geredet. Mein Großvater war Analphabet und meine Großmutter hat regelrecht darauf bestanden, dass ihre Enkel lernen und studieren. Aber dafür hat sie die Klos anderer Leute geputzt. Ich bin stolz auf meine Großeltern.

Werden Sie im Europawahlkampf von der gesamten Parteiprominenz unterstützt?

Schirdewan: Es sind alle dabei. Katja Kipping, Bernd Riexinger, Gregor Gysi und natürlich auch Dietmar Bartsch und Sahra Wagenknecht. Das wird großartig.