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Intensivpfleger Ricardo Lange im Interview: „Je größer Personalnot, desto mehr Fehler passieren“

Berlin / Lesedauer: 7 min

In der Pandemie wurde der Intensivpfleger wegen seiner Aussagen zur Situation in der Pflege bekannt. Im Interview berichtet er vom Personalmangel in Kliniken und wie er sich gegen Hass im Netz wehrt.
Veröffentlicht:05.10.2022, 05:00

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Ricardo Lange ist gerade von der Frühschicht gekommen und hat noch schnell seine Hunde ausgeführt. Deutschlands bekanntester Intensivpfleger schlägt ein Gasthaus in seinem Wohnort kurz hinter der Berliner Stadtgrenze für das Interview vor, seine genaue Adresse hält er inzwischen lieber geheim. Denn seitdem der 41-Jährige offen über die Zustände in Kliniken und der Gesellschaft im Allgemeinen redet, wird er auch zunehmend angefeindet.

Herr Lange, Sie kommen gerade von der Arbeit aus einer Berliner Klinik. Wie war Ihre Schicht?

Anstrengend wie jede Schicht momentan. Eigentlich sollte nach der Personaluntergrenze eine Pflegekraft auf der Intensivstation maximal zwei Patienten betreuen. Ich hatte heute wieder drei. Von Kollegen höre ich, dass sie in einigen Kliniken auch vier betreuen müssen.

Gab es dadurch kritische Situationen?

Ich hatte heute einen alkoholkranken Patienten, der war nicht nur Kreislauf-instabil, sondern auch entzügig und verwirrt. Er wollte ständig übers Bett klettern. Im anderen Zimmer hat währenddessen die Dialyse alarmiert, da mussten Beutel mit Flüssigkeiten getauscht werden, aber ich konnte das Zimmer nicht verlassen, weil mein Patient sich ständig sämtliche Zugänge rausgezogen hat.

Konnte keiner von den Kollegen einspringen?

Die anderen hatten auch jeweils drei Patienten zu betreuen. Die eine Kollegin war gerade mit einem Patienten beim CT und die andere hatte Corona-Patienten zu betreuen, die konnte nicht einfach verkittelt aus dem Isolationszimmer rauslaufen. Es hatte also niemand Zeit, zu helfen, und es dauert ewig, bis die Blutwäsche weitergehen konnte. Dabei läuft man dann Gefahr, dass das Blut in der Dialyse gerinnt, was wiederum zu Komplikationen führt.

Also hat Corona immer noch großen Einfluss auf die Belastung des Personals?

Nur indirekt. Ich kenne ja als Leiharbeiter die Situationen in mehreren Kliniken und ich kann sagen, dass Corona momentan auf der Intensivstation keine große Rolle spielt. Die ein, zwei Patienten, die man hat, kommen nicht wegen Covid zu uns, sondern weil sie einen Herzinfarkt oder Verkehrsunfall hatten. Der positive Test ist meist ein Zufallsbefund.

Wurde die Personalsituation in den Kliniken nicht durch die Pandemie-Erfahrungen verbessert?

Nein. Es wird beim Personal weiter knapp auf Kante geplant, sodass man, wenn nur einer durch Krankheit ausfällt, sofort unterbesetzt ist. Mich ärgert es, dass immer alle nur über Corona sprechen. Aber durch Krankenhauskeime sterben jährlich rund 20 000 Menschen. Und je größer die Personalnot, desto mehr Fehler passieren.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Man muss ja nach und vor jedem Patientenkontakt eine Händedesinfektion durchführen, das Mittel muss mindestens eine halbe Minute einwirken. Wir machen das natürlich nach bestem Wissen und Gewissen. Aber selbst wenn man das nicht unter enormen Druck macht und ständig von A nach B rennt, kann es passieren, dass Stellen an den Fingern und Daumen unbenetzt bleiben, und das kann dann zu erhöhter Infektionsgefahr führen.

Sie sagen, Personalmangel führt auch dazu, dass Menschen sterben …

Ja, zum Beispiel, wenn Menschen künstlich beatmet werden, dann kann die ausgetrocknete Mundflora nicht mehr gut mit Keimen umgehen. Diese können dann über den Beatmungsschlauch direkt in die Luftröhre kommen und eine tödliche Lungenentzündung auslösen. Deswegen sollte bei diesen Patienten pro Schicht mindestens zweimal eine antibakterielle Mundpflege durchgeführt werden, was die Intensivpflegekräfte immer seltener im Alltag schaffen.

Spielen die Keime auch auf anderen Stationen eine Rolle?

Ja, multiresistente Krankenhauskeime schleichen sich unter anderem auch gerne bei Hüft-OPs ein. Das führt dazu, dass die neue Hüfte wieder herausgenommen werden muss und die Patienten oft wochenlang ohne Hüftgelenk im Bett liegen müssen, was wiederum die Gefahr für Thrombosen und Lungenentzündung erhöht.

Sie sind seit zwölf Jahren Intensivpfleger, haben sich die Zustände in dieser Zeit verschärft?

Ja, früher gab es zum Beispiel sogenannte Sitzwachen, die alleine dafür da waren, dass so ein verwirrter Patient, wie ich ihn heute hatte, keine Gefahr für sich und andere darstellt. Und wenn ein Patient einen sogenannten Superkeim hatte, dann wurde er nur von einer festen Pflegekraft betreut, damit diese den Keim nicht herumschleppt. Heute ist diese Pflegekraft trotzdem für zwei weitere Patienten zuständig.

Wo wird Personalmangel noch lebensbedrohlich?

Ich habe in einer Klinik gearbeitet, da war aufgrund einer Krankmeldung auf einer Station für Herzpatienten eine Nachtschwester für 30 Patienten zuständig. Bei einem Patienten hatte sich das Überwachungs-EKG gelöst, wodurch ein erneuter Herzinfarkt nicht mehr vom Monitor erfasst werden konnte. Weil die Schwester unentwegt von Patient zu Patient rennen musste, hat sie das nicht bemerkt. Als sie dann endlich ins Zimmer kam und den diensthabenden Arzt unserer Intensivstation zur Hilfe rufen konnte, hatte der Patient schon Leichenstarre. Die setzt nach drei Stunden ein.

Sie kritisieren nicht nur das System, sondern teilweise auch Kollegen, die es stützen …

Ja, ich finde auch, die Pflegekräfte sollten Verantwortung für sich und die Patienten übernehmen. Wenn ich auch nach zwölf Schichten hintereinander wieder einspringe oder mich immer wieder aus dem Urlaub zurückholen lasse, gefährde ich nicht nur die Patienten, weil ich mich nicht mehr konzentrieren kann, sondern unterstütze ein System, das auf Ausbeutung, emotionale Erpressung und Knappheit ausgelegt ist.

Sie haben darüber auch mit Politikern gesprochen und wurden zur Bundespressekonferenz eingeladen. Hat das etwas bewegt?

Wenn sich etwas getan haben sollte, dann merken wir es nicht. Herr Scholz hat mir damals im Wahlkampf mit Faustschlag versprochen, dass er sich für unsere Berufsgruppe und Veränderungen im Gesundheitswesen einsetzen wird.

 Ein Intensivpfleger steht auf der Intensivstation eines Krankenhauses neben einem Covid-19-Patienten. Intensivpfleger Lange kennt die täglichen Schwierigkeiten vor Ort in seinem Beruf.

Doch auch nach mehreren Nachfragen und einem öffentlichen Brief hat er sich bis heute nicht mehr zu dem Thema geäußert. Herr Lauterbach hat mich nach einem Shitstorm bei Anne Will verteidigt und betont, er wolle mit mir zusammenarbeiten. Aber die E-Mail, die ich ihm daraufhin schrieb, bleibt auch nach sechs Wochen unbeantwortet.

Was war das für ein Shitstorm gegen Sie?

Mit wurde unterstellt, verbotene Substanzen zu nehmen, ich sei Querdenker, Flachhirn. Die Meinungen in der Gesellschaft werden leider immer radikaler. In den öffentlichen Diskussionen gibt es kaum mehr einen gemeinsamen Mittelweg. Wenn ich in der Talkshow bei Anne Will das Wort „Grundrechte“ in den Mund nehme, dann bin ich der AfD-Pfleger, der sowieso schon immer rechts war, oder es heißt, ich würde den Querdenkern in die Hände spielen. Wenn ich über Tier- und Naturschutz rede, dann bin ich der linksgrün-versiffte Pfleger. Es wird nur das gehört, was man hören will.

Wie gehen Sie damit um?

Ich habe mich an die „Beratungsstelle bei digitaler Gewalt HateAid“ gewendet, die meinen Fall als relevant eingestuft und inzwischen einen Anwalt eingeschaltet hat. Ich habe auf Hass-Mails und -Posts immer sachlich geantwortet. Ich kann auch mit Beleidigungen umgehen. Aber wenn es um Verleumdung geht, hört der Spaß für mich auf. Ich wehre mich nun aber auch juristisch, um ein Zeichen zu setzen: Internet ist kein rechtsfreier Raum.

Meinungsfreiheit ist für Sie zu einem großen Thema geworden …

Ja, ich finde, jeder Mensch hat das Recht, seinen Unmut kundzutun, ohne gleich in eine Ecke gesteckt zu werden. Es gibt genug Menschen, die weder links noch rechts sind, sondern einfach auf die Straße gehen aus Angst, ihre Gasrechnung nicht mehr bezahlen zu können oder insolvent zu gehen. Es ist ja gerade die Mittelschicht, die den Laden am Laufen hält, aber kaum Hilfen erhält.

Wie ist Ihre persönliche Lage?

Ich würde nicht sagen, dass ich arm bin, denn ich habe zum Beispiel keine Kinder zu versorgen und ich habe früh gelernt, gut mit Geld umzugehen. Aber inzwischen überlege ich auch dreimal, bevor ich mir etwas anschaffe. Ich fürchte, dass diese weitere Krise für die Gesellschaft zum Pulverfass wird. Auch, weil eben der respektvolle Diskurs und das Miteinander fehlen. Das ist momentan eigentlich meine größte Sorge.