StartseitePolitikVermarktung des Grauens: Hitlers Wolfsschanze wird zum Grusel-Disneyland

Wolfsschanze

Vermarktung des Grauens: Hitlers Wolfsschanze wird zum Grusel-Disneyland

Warschau / Lesedauer: 8 min

Hitlers Bunkerstadt dient heute als Touristenattraktion und Bühne für Laiendarsteller – Gespielt wird das Attentat vom 20. Juli 1944
Veröffentlicht:20.07.2019, 09:00

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Wenn in Hitlers ehemaligem Hauptquartier in Ostpreußen heute wieder Männer in Wehrmachtsuniformen „Achtung! Achtung!“ und „Hände hoch!“ brüllen, hat das nichts mit Rechtsradikalen zu tun. Kriegsspielen ist in Polen eine immer beliebter werdende Freizeitbeschäftigung. So sind auch im nordpolnischen Ketrzyn, dem ehemals deutschen Rastenburg, immer wieder Ritter in voller Rüstung zu sehen und eben auch Wehrmachtssoldaten und SS-Männer.

Sie stellen Schlachten aus dem Mittelalter und dem Zweiten Weltkrieg nach, gehen in diesen Kostümen auch einkaufen oder stehen urplötzlich neben entsetzten Touristen am Frühstücksbüfett ihres Hotels. Auch in der ehemaligen Wolfsschanze wird es wohl zum 75. Jahrestag des Attentats von Claus Schenk Graf von Stauffenbergs auf Adolf Hitler alle paar Stunden einen gehörigen Knall wie von einer Explosion geben.

 Der deutsche Offizier und spätere Widerstandskämpfer Claus Graf Schenk von Stauffenberg.

Denn der Direktor des polnischen Staatsforstes in Masuren will das Geschehen vom 20. Juli 1944 für Touristen möglichst realistisch nachstellen. Zu diesem Zweck soll die Baracke, in der das Attentat stattfand, wiederaufgebaut werden.

Perfekt getarnte Anlage

Die ehemalige Bunkerstadt Wolfsschanze liegt mitten im Wald, keine zehn Kilometer von der rund 30 000 Einwohner zählenden Stadt Ketrzyn (Rastenburg) entfernt. Einst herrschte hier ewiges Dämmerlicht, da die Nazis über den zum Teil gigantischen Bunkern Tarnnetze gespannt hatten, auf denen der Jahreszeit entsprechend mal hellgrüne, sattgrüne oder auch herbstlich verfärbte Blätter lagen.

Ganz in der Nähe des „Führerbunkers“ gab es speziell für Hitler eine Waldlichtung, auf der er täglich spazieren ging und seiner Lieblingsbeschäftigung nachging, der Dressur seiner Schäferhündin Blondie. Die Tarnung war so perfekt, dass bis Kriegsende kein Aufklärungsflugzeug der Alliierten Hitlers Hauptquartier entdeckte. Auch die beiden Flugplätze sowie die Bahnlinie, auf der Hitler mitunter mit dem „Führersonderzug“ unterwegs war, wurden nie entdeckt.

Reichsmarschall Hermann Göring (helle Uniform) und der Chef der „Kanzlei des Führers“, Martin Bormann (l.), begutachten die Zerstörung in der Baracke, in der Oberst Stauffenberg die Sprengladung zündete.

Heute sind die mehr als 80 Bunkerruinen ein Touristenmagnet, der jedes Jahr rund 200 000 Besucher anzieht – vor allem aus Polen und Deutschland, aber auch aus Russland, Holland, Österreich und den USA. Seit 1992 erinnert ein kleines Denkmal in Form eines aufgeschlagenen Buches mit geborstenem Rücken an das missglückte Attentat auf Hitler.

Hier stand die Baracke, in der am 20. Juli 1944 Claus Schenk Graf von Stauffenberg ein Attentat auf Adolf Hitler unternahm. Er und viele andere, die sich gegen die nationalsozialistische Diktatur erhoben hatten, bezahlten mit ihrem Leben.

Die Inschrift an der Wolfsschanze

Über anderthalb Jahre lang hatten deutsche und polnische Diplomaten um den Wortlaut für die Inschrift gerungen. Zunächst wollten die Deutschen den deutschen Widerstand allgemein ehren. Damit aber waren die Polen nicht einverstanden, da dies ihrer Meinung nach eine unzulässige Gleichstellung mit dem polnischen Widerstand bedeutet hätte.

Am Ende einigte man sich auf folgenden Text: „Hier stand die Baracke, in der am 20. Juli 1944 Claus Schenk Graf von Stauffenberg ein Attentat auf Adolf Hitler unternahm. Er und viele andere, die sich gegen die nationalsozialistische Diktatur erhoben hatten, bezahlten mit ihrem Leben.“ Bis zur politischen Wende 1989 hatten Polens Kommunisten das Attentat auf Hitler als einen „Mythos“ bezeichnet oder völlig geleugnet.

Blumen für Stauffenberg

Deutsche kommen oft mit Blumen in die Wolfsschanze, um sie am Grab des Widerstandskämpfers Stauffenberg niederzulegen, das sich aber gar nicht hier befindet. Für viele Polen ist das bis heute unverständlich, weil sie zumeist nicht wissen, dass Deutsche sich heute eher in der Nachfolge der Widerstandskämpfer begreifen wollen denn als Nachfolger der Nationalsozialisten. So vermuten Polen oft, dass Deutsche hier insgeheim Hitler verehren und mit den Blumen dem Schicksal dafür danken, dass „der Führer“ am 20. Juli 1944 noch einmal mit dem Leben davongekommen ist.

Stauffenberg, der eine Aktentasche mit dem Sprengstoff unter den Eichentisch mit den Karten gestellt hatte, verließ den Raum unter einem Vorwand, sah die Explosion und flog im Glauben nach Berlin, dass Hitler tot sei. Als er dort ankam, wussten schon alle, dass „der Führer“ das Attentat überlebt hatte.

Der geplante Staatsumsturz Operation Walküre wurde viel zu spät ausgelöst und scheiterte. Gegen Mitternacht erschossen regimetreue Wehrmachtssoldaten Stauffenberg und andere Widerstandskämpfer. Gräber gibt es keine, da Heinrich Himmler die Asche der Hingerichteten über die Rieselfelder von Berlin verstreuen ließ.

Ruinen der Bunkerstadt zeugen vom Nazi-Wahnsinn

Anders als Besucher aus Westeuropa wissen dann aber wieder viele Polen, dass Hitler ab dem Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 den Rassen- und Vernichtungskrieg nicht von Berlin aus plante und lenkte, sondern von dieser dämmrig-feucht-muffigen Bunkerstadt aus.

800 Tage, fast drei Jahre lang, lebte Hitler mit nur kurzen Unterbrechungen hinter sieben Meter dicken Stahlbetonwänden in Masuren. Mit dem Näherrücken der Roten Armee wurde es ihm in der Wolfsschanze dann zu gefährlich.

Am 20. November 1944 verließ er sie. Da das „Führerhauptquartier“ nicht in die Hände der Sowjets fallen sollte, versuchten Sondereinheiten der Wehrmacht sie mit bis zu acht Tonnen (!) Sprengstoff pro Bunker zu sprengen – was nicht gelang. So zeugen noch heute die Ruinen dieser Bunkerstadt vom Wahnsinn des nationalsozialistischen Diktators.

In den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg lag die ehemalige Bunkerstadt Wolfsschanze“ in einem militärischen Sperrgebiet. Zunächst mussten polnische Pioniere etwa 55 000 Landminen rund um das Terrain und 200 000 Stück verschiedener Munition entschärfen und abtransportieren, bevor es im Jahre 1959 zur Besichtigung freigegeben werden konnte.

Die Bevölkerung ist ein unglaublicher Pöbel, sehr viele Juden und sehr viel Mischvolk. Ein Volk, welches sich nur unter der Knute wohlfühlt. Die Tausenden von Gefangenen werden unserer Landwirtschaft recht guttun.

Claus Schenk Graf von Stauffenbergs

Doch Polens Kommunisten hatten Probleme mit dem Widerstand adliger Wehrmachtsoffiziere gegen Hitler, passte dieser doch nicht zur Ideologie des sozialistischen Antifaschismus. Zudem war Stauffenberg keineswegs ein leuchtender Held.

So schrieb der Wehrmachtsoffizier kurz nach dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 an seine Frau: „Die Bevölkerung ist ein unglaublicher Pöbel, sehr viele Juden und sehr viel Mischvolk. Ein Volk, welches sich nur unter der Knute wohlfühlt. Die Tausenden von Gefangenen werden unserer Landwirtschaft recht guttun."

Das Geschäft mit dem Krieg

Auch als das staatliche Reisebüro Mazur-Tourist die Wolfsschanze übernahm, konnten Besucher zwar an den zyklopisch anmutenden Bunkerresten mit den dicken, verbogenen Stahldrähten vorbeispazieren, doch gab es kaum Hinweisschilder oder erklärende Tafeln zur Funktion der einzelnen Bunker und Baracken. Dies änderte sich erst 1992, als zum Jahrestag des Attentats auf Hitler am Ort der der zerstörten Lagerbaracke ein kleines Denkmal für Stauffenberg enthüllt wurde.

Doch statt nun die Wolfsschanze unter Leitung erfahrener Historiker zu einer Gedenkstätte oder zumindest einem Freilichtmuseum umzugestalten, wurde sie an die 1993 gegründete Firma Wolfsnest verkauft, deren Anteile zu 80 Prozent der polnisch-österreichische Süßwarenhersteller Carpathia hielt und zu 20 Prozent die Stadt Ketrzyn.

Die Geschäftsidee war, wenig Aufwand ein Maximum an Rendite zu erwirtschaften. Ein paar Jahre ging das gut, doch Moos und Gebüsch überwucherten die kaum instand gehaltenen Ruinen mehr und mehr. Zudem empörten sich Zeitzeugen über Freizeit-angebote wie Schießen im ehemaligen Bunker von Stabsgeneral Jodl oder bunte Paintball-Verfolgungsjagden auf dem Gelände.

Wie das Grauen vermarktet wird

Als dann Polens Presse Ende 2016 meldete „Wolfsschanze verschimmelt. Pächter in finanziellen Schwierigkeiten!“, übernahm das Unternehmen Staatsforst die Wolfsschanze, schloss den Schießstand, verbot die Paintball-Spiele und investierte zunächst kräftig.

Doch auch das neue Konzept klingt eher nach Abenteuerspielplatz und einem Grusel-Disneyland als nach einer historischen Gedenkstätte. Die zerstörte Lagerbaracke soll wieder aufgebaut werden, und rund um den Kartentisch sollen Puppen in Wehrmachtsuniformen platziert werden – mit Hitler in der Mitte und der Sprengstofftasche Stauffenbergs unter dem Tisch.

Möglicherweise werden aber auch Laien-Schauspieler engagiert, die das Attentat immer wieder nachspielen und so für „historische Lektionen“ sorgen. Immerhin gibt es inzwischen Informationstafeln, einen Raum für Filmvorführungen und eine App fürs Smartphone.

Demnächst sollen hier auch ein weiteres Hotel und ein weiteres Restaurant entstehen – neben den Souvenir-Kiosken. Bei all diesem Unternehmergeist geht völlig unter, dass hier eines der schlimmsten Menschheitsverbrechen beschlossen wurde: der Holocaust.