StartseitePolitikErdogan weist Urteil aus Straßburg zurück

Menschenrechtsgerichtshof

Erdogan weist Urteil aus Straßburg zurück

Istanbul / Lesedauer: 3 min

Erdogan will inhaftierten Kurdenpolitiker Selahattin Demirtas nicht freilassen – Weiterer Deutscher vor Gericht
Veröffentlicht:20.11.2018, 20:16

Artikel teilen:

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat am Dienstag ein Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs in Straßburg demonstrativ zurückgewiesen und damit neue Spannungen mit der EU angefacht. Erdogan lehnte die Forderung des Straßburger Gerichts nach Freilassung des Kurdenpolitikers Selahattin Demirtas ab, der seit zwei Jahren wegen des Vorwurfs der Terrorpropaganda in Untersuchungshaft sitzt. Die Türkei werde den Fall selbst „erledigen“, erklärte Erdogan.

Der Präsident habe damit offen zugegeben, dass seine Regierung die türkische Justiz kontrolliere, sagte die Istanbuler Menschenrechtlerin Eren Keskin. Die Straßburger Richter gaben der Beschwerde von Demirtas gegen seine Inhaftierung seit November 2016 zwar nicht in allen Bereichen statt, doch in den wichtigsten Punkten entschied das Gericht für den 45-jährigen Ex-Vorsitzendenden der Kurdenpartei HDP. Das Urteil warf der Türkei vor, Demirtas mit der Inhaftierung aus dem Verkehr gezogen zu haben, um Pluralismus und eine freie demokratische Debatte zu unterdrücken. Demirtas erklärte, Straßburg habe bestätigt, dass er als „politische Geisel“ in Haft gehalten werde. Sein Anwalt beantragte in Ankara die Freilassung seines Mandanten.

Auch andere Erdogan-Kritiker werteten die Entscheidung als höchstrichterlichen Beweis dafür, dass Demirtas aus politischen – und nicht aus juristischen – Gründen hinter Gittern sitzt. Kati Piri, die Türkei-Berichterstatterin im EU-Parlament, verlangte Demirtas’ sofortige Freilassung. Sezgin Tanrikulu, ein türkischer Oppositionsabgeordneter und Menschenrechtsanwalt, sprach von einem Grundsatzurteil, das auch neun anderen inhaftierten HDP-Abgeordneten die Freiheit bringen sollte.

Im türkischen Kurdengebiet wurde das Straßburger Urteil mit Freude aufgenommen; im südostanatolischen Batman tanzten die Menschen auf der Straße: Demirtas ist bei vielen türkischen Kurden und linksliberalen Wählern in den Großstädten äußerst beliebt. Er wird als möglicher HDP-Bürgermeisterkandidat in der Kurdenmetropole Diyarbakir bei den Kommunalwahlen im März gehandelt. Demirtas’ Popularität und politisches Talent sind wichtige Gründe dafür, dass die Regierung ihn gerne weiter hinter Gittern sehen würde.

Erdogan beklagt „Einmischung“

Deshalb ist eine baldige Haftentlassung des Politikers nicht zu erwarten, auch wenn sich die Türkei als Mitglied des Europarats eigentlich den Straßburger Urteilen fügen muss. Die Entscheidung sei für sein Land nicht bindend, sagte Erdogan. Er kündigte nicht näher erläuterte „Gegenmaßnahmen“ an, um den Fall Demirtas zu „erledigen“. Die Anwältin Eren Keskin sagte, Erdogan wolle offenbar die Gerichte anweisen, Demirtas möglichst schnell rechtskräftig zu verurteilen. Das Urteil der Europarichter bezog sich auf die Untersuchungshaft für Demirtas.

Der Fall wird damit zu einer weiteren Belastung der türkisch-europäischen Beziehungen. Europa beklagt einen systematischen Abbau demokratischer Rechte in der Türkei. Im Gegenzug wirft die Türkei den Europäern vor, türkische Staatsfeinde zu unterstützen.

Vor der Parlamentsfraktion seiner Regierungspartei AKP wandte sich Erdogan am Dienstag auch gegen Kritik aus der EU an der kürzlichen Festnahme führender Akademiker. „Einmischung in die Türkei steht nach wie vor auf eurer Tagesordnung“, sagte Erdogan. Fortschritte im politischen Dialog zwischen Türkei und EU beim Besuch der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini und des Erweiterungskommissars Joachim Hahn in Ankara am Donnerstag sind in diesem angespannten politischen Klima unwahrscheinlich. EU und Türkei arbeiten im Rahmen eines Abkommens zur Verhinderung neuer Flüchtlingsströme nach Europa zusammen.

Auch im bilateralen Verhältnis zwischen Deutschland und der Türkei gibt es neue Spannungen. Nach den kürzlichen Haftstrafen für zwei Deutsche in der Türkei begann am Dienstag in Istanbul ein Prozess gegen den deutsch-türkischen Sozialarbeiter Adil Demirci. Der Kölner muss sich wegen angeblicher Terrorpropaganda verantworten.