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Ruferheim

Drama hinter der Grenze: Warum die Schweiz ihre vielen Coronatoten verdrängt

Genf / Lesedauer: 11 min

Die Zahl der Toten in der Schweiz ist höher als in den meisten europäischen Staaten - Intensivstationen sind am Limit. Dennoch herrscht bislang wenig Bewusstsein für die Folgen der Pandemie.
Veröffentlicht:09.12.2020, 10:39
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Gabriela Fankhauser erinnert sich an den Tag, als der Tod ins Heim kam. Anfang November war der Herbst noch golden in Nidau im Kanton Bern. Beim Mittagessen in der Senioreneinrichtung Ruferheim fing eine Frau an zu husten.

Pflegekraft Gabriela Fankhauser quält an ihren freien Tagen die Sorge um die Bewohner des Seniorenheims, in dem sie arbeitet.

Die zweite Welle der Pandemie in der Schweiz türmte sich zu dieser Zeit bereits bedrohlich mit täglich steigenden Infektionszahlen in die Höhe. Sie brach sich zuerst Ende Oktober über der französischsprachigen Westschweiz. Die Kliniken in Genf meldeten überfüllte Intensivstationen. Leichen wurden im Genfer Universitätsspital gelagert. Es gab in der Stadt keinen Platz mehr in den Kühlräumen der Bestatter.

Versuche, das Virus zu stoppen, scheiterten

Die Genfer Kantonsregierung ordnete die Schließung aller Geschäfte abgesehen von Supermärkten oder Apotheken an. Die Deutschschweizer in Nidau und anderswo östlich des sogenannten Röstigrabens zwischen den verschiedensprachigen Landesteilen genossen da noch die milden Herbstabende bis 23 Uhr in Restaurants oder Bars. Als seien sie sicher vor der im Westen der Schweiz tobenden Flut.

Der einen erkrankten Bewohnerin, folgten im Ruferheim bald weitere. Das Ruferheim mit seinen 108 Pflegeheimbetten versuchte die Krankheit zu stoppen, indem es seine Bewohner in den Wohngruppen isolierte. Das Virus zeigte sich unbeeindruckt. Es sprang von Stockwerk zu Stockwerk und von Wohngruppe zu Wohngruppe. Aus verschiedenen Flammen wurde schließlich ein einziger Virusbrandherd.

Als ich sieben Tage frei hatte, habe ich vier Mal im Heim angerufen und gesagt, wenn ihr Hilfe braucht, dann meldet euch.

Gabriela Fankhauser, Pflegekraft im Seniorenheim

Fankhauser macht es nachdenklich, dass der Erreger ihr Heim heimsuchen konnte, obwohl sie das Schutzkonzept der Einrichtung auch im Rückblick als „bombastisch“ bewertet. Schutzmaterial sei in großen Mengen angeschafft worden, versichert sie.

Das Problem Schweizer Seniorenheime lässt sich wohl auch nicht in Kanistern mit Desinfektionsmitteln, oder der Anzahl der Masken und Handschuhe bemessen. Die 40-jährige Pflegekraft quält an ihren freien Tagen das schlechte Gewissen. Sie fühlt sich hin- und hergerissen zwischen der Notwendigkeit, sich zu erholen und der Sorge um Kollegen und den ihr anvertrauten Heimbewohnern. „Als ich sieben Tage frei hatte, habe ich vier Mal im Heim angerufen und gesagt, wenn ihr Hilfe braucht, dann meldet euch“, erzählt sie.

In manchen Heimen ist eine Pflegekraft für 20 Menschen verantwortlich

Fankhauser ist Mitglied der Initiative „Pflegedurchbruch“. In ihr engagieren sich Pflegekräfte in der Schweiz. Sie hält Kontakt mit anderen Pflegern in der Deutschschweiz und lernt dabei Demut. Sie berichtet von Heimen, in den Wohngruppen fast verwaist seien, weil die Pflegekräfte an Corona erkrankt sind. „Dann ist eine Fachkraft vielleicht noch mit ein oder zwei Aushilfskräften für 20 Menschen verantwortlich, von denen fünf Corona haben“, sagt sie.

Eigentlich müsste diese Kraft nach jedem Umgang mit einem Infizierten ihre Kleidung komplett wechseln. Das sei völlig unrealistisch, meint Fankhauser. „Wenn Personal so stark ausfällt, wie jetzt, können wir die Hygieneregeln nicht einhalten“, meint die Pflegekraft.

Die Schweiz zählt bei einer Bevölkerung von 8,7 Millionen Einwohnern Anfang Dezember über 354.000 Infizierte und über 5400 Tote, die an und mit dem Coronavirus verstorben sind. Deutschland mit rund 83 Millionen Einwohnern verzeichnet im gleichen Zeitraum 1,2 Millionen Fälle und über 19.000 Tote. Allein in zwei schwarzen Wochen von Mitte November bis Ende November verstarben 1000 Schweizer an Covid 19.

Den Weg, den wir eingeschlagen haben, stimmt für mich.

Ueli Maurer, Finanzminister der Schweiz

Als am 18. November bekannt wurde, dass in der gesamten Schweiz alle 876 zertifizierten Intensivbetten mit Covidpatienten belegt sind, bat die Schweizer Gesellschaft für Intensivmedizin ( SGI ) die Schweizer darum, eine Patientenverfügung bereitzuhalten. Jeder solle es sich überlegen, ob er im Fall der Fälle intensivmedizinische Hilfe in Anspruch nehmen wolle, erklärte die SGI.

Die Schweizer Bundepräsidentin Simonetta Sommaruga äußerte im November ihre Betroffenheit und Trauer in einem Interview mit einer Lokalzeitung über den Verlust so vieler Schweizer Leben in so kurzer Zeit. Während Italiens Staatspräsident Sergio Mattarella im Juni in Bergamo um die Coronaopfer mit einem Staatsakt trauerte und Spanien Zehntausende von Coronatoten der ersten Welle mit zehn Tagen Staatstrauer im Mai ehrte, verzichtet die Berner Regierung bisher auf eine Geste an die Hinterbliebenen.

Bürger zündeten am 20. November nachts Kerzen vor dem Bundeshaus in Bern. Je ein Licht brannte für die bis zu diesem Tag 3575 Coronatoten der Schweiz. Einen Tag später gibt Finanzminister Ueli Maurer von der rechtskonservativen Schweizer Volkspartei (SVP) der Samstagsrundschau des Schweizer Fernsehsenders SRF ein Interview. Darin verteidigt er den Verzicht auf ein landesweiten Lockdown und die Entscheidungshoheit der Schweizer Kantone über das Maß der öffentlichen Einschränkungen als Güterabwägung zwischen Gesundheit und Wirtschaftsinteressen. „Den Weg, den wir eingeschlagen haben, stimmt für mich“, sagte Maurer in der Sendung.

Mangelndes Bewusstsein für Katastrophe

Der emeritierte Soziologe François Höpflinger staunt über seine Landsleute. Der 72-Jährige hat an der Universität Zürich gelehrt und gilt als Referenz in der Schweizer Altersforschung. In der Zeit von Mitte bis Ende November starben jeden Tag im Durchschnitt so viele Schweizer, als wäre eine Maschine der Swissair vom Flughafen Zürich-Kloten gestartet und in den Alpen zerschellt.

Den emeritierten Soziologen François Höpflinger überrascht die Sorglosigkeit seiner Landsleute.

Der breiten Öffentlichkeit mangele es aber am Bewusstsein, eine Katastrophe zu erleben, bemerkt Höpflinger. Er studiert die Statistiken und stellt fest, dass 40 Prozent der Coronatoten in Senioreneinrichtungen wie dem Ruferheim in Nidau gelebt haben. 45 Prozent starben in Kliniken, die kaum ein Journalist von innen sieht. Er spricht von den „unsichtbaren Alten“, die sich in Heimen infizieren und nach Wochen an den Schläuchen diverser Apparaturen still aus der Welt verabschieden.

„Es sind keine Menschen, die man in der Nachbarschaft kennt oder die in Vereinen aktiv sind. Sie hinterlassen keine Lücke in der Gesellschaft“, sagt Höpflinger. Die meisten der Verstorbenen dürften Kinder und Enkel gehabt haben, räumt der Forscher ein. „Wenn die Eltern und Großeltern erst einmal im Heim leben, ist es für die meisten einfach der Lauf der Dinge, dass sie irgendwann sterben. Ob das nun wegen Corona ist oder etwas Anderem“, sagt er.

Sterbeanzeigen werden selten veröffentlicht

In der Schweiz sei der Tod zudem eine reine Familienangelegenheit. „In den vergangenen Jahren ist es immer seltener geworden, Todesanzeigen in den Zeitungen zu schalten“, sagt er. Sonderseiten voller Sterbeanzeigen bekommen die Schweizer also nicht zu sehen, wenn sie morgens die Zeitung aufschlagen.

Höpflinger beschreibt die Schweizer Gesellschaft als ausgesprochen „alterssegregiert“. Wer über 85 ist, lebt überdurchschnittlich häufig in Senioreneinrichtungen. Der Kontakt zum Rest der Gesellschaft breche für viele ab, weil sie an Demenz erkrankten, erklärt Höpflinger.

Die Gruppe der 65 bis über 80-Jährigen bezeichnet Höpflinger als „junge Alte“. Sie hielten sich fit und versuchten, im Takt der Gesellschaft zu leben, solange es ginge. „Solidarität können die ganz Alten von ihnen nicht erwarten“, sagt Hopflinger.

Der 1950 geborene SVP-Politiker Ueli Maurer wäre Höpflingers Einteilung zufolge ein „junger Alter“. Dass er bei seiner Güterabwägung die Interessen der vom Coronavirus besonders gefährdeten Hochbetagten gegen die von Gastronomen oder Hoteliers aufrechnet, ist für Höpflinger wenig erstaunlich. „Die ganz Alten nehmen nicht mehr am Erwerbsleben teil“, sagt er. Und die wohlhabende Schweiz hüte ihre starken Wirtschaftsbranchen, etwa den Tourismus, wie ihren Augapfel, meint der Soziologe.

Reto Weibel hat es von seiner Ferienwohnung im Kurort Ovronnaz im Kanton Wallis nicht weit in die Natur. Er konnte im November bei milden Temperaturen viele Spaziergänge machen. Seine Katze leistet ihm im trüben Dezember Gesellschaft in der Isolation. Der 50-Jährige lebt allein ohne seine Frau und Familie in der Einsamkeit der Schweizer Berge. Er ist Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Cystische Fibrose.

Ich glaube nicht, dass die Menschen wegen den vielen Toten ihr Verhalten ändern werden.

Reto Weibel, Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Cystische Fibrose.

Weibel ist einer von rund 1000 Schweizern, die an der auch als Mukoviszidose bekannten Erbkrankheit leiden. Er bekam 2014 eine Spenderlunge transplantiert und leidet an Diabetes und Bluthochdruck. Das Virus könnte für seinen Körper im Angesicht der Vorerkrankungen und der Transplantation eine Bombe sein.

Während seine Landsleute immer noch in Restaurants sitzen, muss Weibel den Kontakt zu seinen Liebsten meiden. Dennoch empfindet er keinen Groll angesichts der Worte seines Finanzministers von einer Abwägung der Güter Gesundheit und Wirtschaft. Die Suche nach einer Balance zwischen Wirtschaft und Gesundheit könne er nachvollziehen. Mehr tun, um Menschen wie ihn zu schützen, könnte die Schweiz allerdings schon, findet er.

Reto Weibel muss den Kontakt zu seinen Mitmenschen meiden.

Nicht alle chronisch Kranke hätten die Gelegenheit, sich jetzt in die Alpen zurückzuziehen, bemerkt Weibel. Wer gefährdet sei, aber nicht zuhause arbeiten könne, müsse in der Schweiz darauf vertrauen, dass der Arbeitgeber die Hygieneregeln einhält. „Im Frühjahr war es möglich, sich krankschreiben zu lassen. Ganze drei Wochen lang, gab es die Regelung“, sagt er.

Dann sei die Bestimmung gekippt worden. „Die Wirtschaft hat Druck gemacht“, sagt Weibel. Für ihn steht fest, dass die Pandemie in der Schweiz nur durch einen Impfstoff beendet werden kann. „Ich glaube nicht, dass die Menschen wegen den vielen Toten ihr Verhalten ändern werden“, sagt Weibel.

Dystopie in einem Land des Wohlstands

Der Schweizer Filmregisseur Michael Krummenacher lebt seit 15 Jahren in München. Er initiierte 2015 den mit verschiedenen Preisen prämierten Film „Heimatland“. Zehn Regisseure, unter ihnen Krummenacher, malten sich aus, wie die Schweiz untergeht. In dem Film braut sich eine Wolke über der Schweiz zusammen. Sie droht sich in einem nie dagewesenen Sturm zu entladen.

Das Gefühl, uns geht es doch gut in der Schweiz, das ist Teil der Volksseele.

Michael Krummenacher, Filmregisseur

Die Versicherungsbranche der Schweiz verlangt von der Regierung in Bern gerettet zu werden, Lokalpolitiker rufen dazu auf, mit der Waffe in der Hand die Heimat zu verteidigen. Dabei kommt die Bedrohung von oben und nicht von außen. Am Ende strömen die Schweizer an die deutsche Grenze, in der Erwartung, dass Europa ihnen die Tore öffnet.

Die Dystopie zeigt ein Land, in dem sich niemand eine Katastrophe vorstellen kann. Krummenacher sieht Parallelen zwischen seiner Fiktion und der außer Kontrolle geratenen Pandemie in der Eidgenossenschaft. Der 1985 geborene Regisseur erzählt von einem Besuch im Juli in seinem Heimatkanton Schwyz. „Ich war in einem Einkaufszentrum, die Menschen standen dicht an dicht auf der Rolltreppe. Keiner trug Maske wie in Deutschland. Mir kam das vor wie ein Historienfilm“, sagt er.

Michael Krummenacher

Ihn erschrecke das Kalkül, mit dem jeder Schweizer Kanton für sich den Gesundheitsschutz schwächerer Bevölkerungsgruppen gegen wirtschaftliche Interessen abwägt. Was dem Wohlstand der Allgemeinheit entgegenstünde, würde in der Schweiz leicht beiseitegeschoben.

Schweizer fühlten sich außerdem als Nation, die in ihrer Geschichte kaum Unglück erleben musste, unverwundbar. Krummenacher sieht darin Hybris. „Das Gefühl, uns geht es doch gut in der Schweiz, das ist Teil der Volksseele“, sagt der Regisseur.

Das Schweizer Bundesamt für Gesundheit (BAG) legte am 7. Dezember neue Zahlen zur Coronalage in der Schweiz vor. Der Sieben-Tages-Durchschnittswert lag bei 3891 Fällen und damit höher als in der vergangenen Woche. Vertreter der Berner Regierung erklärten die Abflachung der Rekordfallzahlkurve nach dem düsteren November für beendet. Sie riefen die Kantone zum Handeln auf.

In Zürich standen verkaufsfreie Sonntage am 20. und 27. Dezember zur Debatte. Der Gesundheitsvorsteher von Zürich, Andreas Hauri, zeigte dabei Verständnis für Unmut über einen „schwerwiegenden Eingriff in die Wirtschaftsfreiheit“. Nur der Sonntagsverkauf nach den Feiertagen wurde am Ende gestrichen.

Anmerkung der Redaktion: Durch einen technischen Fehler war als Autor ursprünglich Dirk Uhlenbruch angegeben, der Text ist jedoch von Cedric Rehmann. Wir bitten um Entschuldigung.