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Schicksalstag

Die Angst vor dem IS hat sich tief in die Seele eingegraben

Politik / Lesedauer: 5 min

Viele Frauen im Flüchtlingscamp Mam Rashan können die Erfahrung von Gewalt und Tod nicht verarbeiten – Auch der Heimatverlust macht ihnen zu schaffen
Veröffentlicht:22.12.2017, 18:40

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Am 3. August 2014 wurden ihre schlimmsten Ängste wahr. Dieser Tag hat sich als Schicksalstag in die Herzen und Köpfe der Jesiden im Nordirak eingeprägt. Während die Menschen in Baden-Württemberg und Bayern in den Sommerferien weilten, schlugen knapp 4000 Kilometer entfernt die sogenannten Gotteskrieger zu.

Es war ein früher Sonntagmorgen, als sie mit ihren Jeeps in die jesidischen Dörfer einfielen. Und es ging ihnen um nichts anderes, als den wehrlosen Menschen, auf die sie trafen, möglichst großes Leid zuzufügen. Die Brutalität, mit der die Kämpfer des sogenannten „Islamischen Staates“ vorgingen, war so unfassbar, dass sie ihren Opfern auf Dauer in die Seele kroch. Vor allem die jesidischen Frauen leiden bis heute unter Angstzuständen – obwohl sie schon längst in Sicherheit sind.

„Mir geht es nicht gut“, sagt die Jesidin Sewe Kasim, die wie alle Bewohner des Flüchtlingslagers Mam Rashan im Nordirak aus dem Shingal-Gebiet stammt. Die 43-Jährige wohnt mit ihrem Mann und sieben Kindern in Containern in dem Camp – in dem es immerhin Strom, Wasser und eine Grundschule für die Kinder gibt. „Von daher bin ich sehr dankbar, dass ich hier wohnen kann“, sagt die Frau mit dem lilafarbenen Schal um den Kopf, deren Bild via Skype im Ravensburger Büro sichtbar wird. „Aber wenn ich eine Arbeit hätte, würde es mir sicherlich sehr viel besser gehen.“

Es sind diese vielen widrigen Faktoren, die den Menschen in den Flüchtlingslagern in der Nähe großer nordirakischer Städte wie Erbil und Mossul so zusetzen. Keine Arbeit, die Angst vor dem kalten Winter, die Angst vor dem glutheißen Sommer, die Sorge um die Zukunft ihrer Kinder – und natürlich der Verlust all dessen, was früher ihr Leben ausgemacht hat. Das eigene Haus, der Garten, in dem Gemüse angebaut wurde, die großen Familieneinheiten, die weit über Mutter, Vater, Kind hinausgehen, der bescheidene Wohlstand und vor allem das Vertrauen darin, dass der nächste Tag nichts wirklich Schlimmes bringen wird. All dies war plötzlich weg an jenem Tag im August 2014.

„Der IS hat unser Dorf eingenommen, er hat unsere Frauen und Kinder getötet. Wir sind vor dem Tod geflohen und ins Camp gekommen“, sagt die 30-jährige Witwe Hadschi Aissa. Ihr hat die Terrormiliz auch noch den Ehemann genommen, jetzt lebt sie allein mit ihren vier Kindern in Mam Rashan. „Es ist sehr bitter, wenn die Kinder ohne den Vater aufwachsen“, sagt sie. Der Verlust schmerzt sie, er drückt sie nieder, obwohl sie weiß, dass sie für ihre Kinder stark sein muss. „Aber ich fühle mich innerlich sehr schwach“, sagt die Jesidin.

Eigentlich bedarf es nicht einmal der Worte, um zu erkennen, wie es Frauen wie Hadschi Aissa oder Sewe Kasim geht. In ihren Zügen liegt eine Traurigkeit, die jedes tröstende Wort schon fast banal klingen lässt. Das Grauen, das hinter ihnen liegt, hat sie offensichtlich nicht wütend oder rachsüchtig gemacht, sondern schlicht leidend. Und da ihr Geist nicht verarbeiten kann, was sie gesehen oder erlebt haben, gerät der Körper in Mitleidenschaft.

Auch der Körper leidet mit

Die 45-jährige Ehazal Rafo hat ständig starke Schmerzen. Nierensteine, erklärte der Arzt, für etwa 200 Euro operativ zu behandeln. Aber auch das hat der Arzt gesagt: Die Krankheit sei eine Folge ihrer psychischen Situation. Seit der Flucht vor den IS-Kämpfern hat die Mutter von acht Kindern fürchterliche Angstzustände. Die Todesangst, die sie damals gefühlt hat, will nicht mehr weichen, obwohl sie sich in Mam Rashan eigentlich sicher fühlt. Die 45-Jährige wäre auch bereit, mit einem Arzt über ihre seelischen Verwundungen zu sprechen. Aber bislang fehlte dafür das Geld.

Wie es sich wohl anfühlt, von dem einen Tag auf den anderen Tag alles zu verlieren? Zum Hilfsempfänger zu werden, dem es – realistisch betrachtet – wohl auf Jahre verwehrt sein wird, für die eigenen Kinder oder die alte Mutter selbst zu sorgen? Die Familien im Camp Mam Rashan nehmen dieses Schicksal in einer Art ruhigen Verzweiflung hin. Sie sind vor allem besorgt um die Zukunft ihrer Kinder. Wie alle Eltern wollen sie, dass es ihren Töchtern und Söhnen eines Tages besser gehen soll als ihnen. „Mir ist es sehr wichtig, dass die Kinder zur Schule gehen“, sagt die 43-jährige Sewe Kasim und ist deshalb den Lesern der „Schwäbischen Zeitung“ sehr dankbar. „Meine Kinder haben Jacken, Schultaschen und Schulmaterial bekommen. Wir schätzen hier Ihre Arbeit sehr.“

Dennoch bleibt die Sehnsucht. Nach Familienmitgliedern, Verwandten und Nachbarn, die der IS entweder ermordet oder verschleppt hat. Die es nicht geschafft haben, vor der Terrormiliz zu fliehen. Und dann natürlich nach ihren Dörfern im Shingal, wo sie bis zum 3. August 2014 einfach ihr Leben leben konnten. Aber auch nach einer Arbeit im Hier und Jetzt, die genug einbringt, um den Lebensunterhalt selbst zu verdienen und die alltäglichen Sorgen über ausreichend Heizmaterial oder einen Teppich für den Container zu vertreiben. Die Zeit lässt sich dadurch nicht zurückdrehen. Aber vielleicht hätten die Frauen dann wieder ein wenig mehr Hoffnung, dass ihnen ihr Leben nicht für alle Zeit aus der Hand genommen ist.