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Absturz

Das große Schrumpfen der Parteien

Politik / Lesedauer: 4 min

Fast alle etablierten Parteien in Deutschland verlieren Mitglieder: Was tun sie dagegen?
Veröffentlicht:28.12.2016, 18:50

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Er soll die große CDU vor dem Absturz in die statistische Bedeutungslosigkeit retten. Vor dem Hintergrund dieser gewaltigen Aufgabe wirkt Henning Otte , Bundestagsabgeordneter und CDU-Kreisvorsitzender aus dem niedersächsischen Celle, bemerkenswert gelassen.

Ein Anruf bei dem ersten Bundesmitgliederbeauftragten der Christdemokraten, zwei Wochen nach dessen Ernennung auf dem Parteitag in Essen: Otte spricht von den „dicken politischen Brettern“, die man bisweilen bohren muss, um in der Gesellschaft etwas bewegen zu können. „Demokratie lebt vom Mitmachen“: Dafür will der 48-Jährige mehr junge Menschen gewinnen. Bevorzugt auf die bewährte Art, durch persönliche Begegnungen, auch wenn der vierfache Vater der modernen Kommunikation über die sozialen Medien nicht gänzlich entsagen will.

Die Kanzlerin-Partei braucht eine politische Frischzellenkur, wenn sie sich an ihrem 100. Geburtstag im Juni 2045 noch eine „Volkspartei“ nennen möchte. Ende November 2016 zählte sie 434 019 Mitglieder. Ende 2015 waren es 444 400, und ein Jahr davor 457488. In den vergangenen zehn Jahren ist die Union um 21 Prozent geschrumpft. Dass das Durchschnittsalter ihrer Mitglieder mittlerweile 60Jahre beträgt, dürfte für die CDU ebenfalls kein Grund zur Freude sein.

Eine Parteimitgliedschaft sei „keine Zwangsehe“, sagt der neue Bundesmitgliederbeauftragte Otte nüchtern und gibt zu, dass er zwar „Akzente setzen und Angebote machen“, aber nicht die demografische Entwicklung aufhalten könne.

Milieus lösen sich auf

Es gibt noch mehr Gründe, warum die CDU, aber auch die meisten anderen etablierten Parteien, seit Jahren schrumpfen. Einer davon sei die „Erosion der festgefügten Milieus“, aus denen früher bevorzugt die Mitglieder gewonnen wurden, sagt der renommierte Parteienforscher Oskar Niedermayer von der Freien Universität Berlin. Gemeint sind etwa das Arbeitermilieu oder die Katholiken.

Das zweite Problem sei, dass heute mehr Parteien um Anhänger konkurrierten. „Wenn man früher für die soziale Gerechtigkeit kämpfen wollte, schloss man sich der SPD an – heute muss man zwischen SPD, den Linken und Grünen wählen“, erklärt Niedermayer. Zwei weitere Faktoren würden die jungen Menschen betreffen: Sie hätten mehr Möglichkeiten als früher, auch außerhalb der Parteien politisch aktiv zu werden. Und sie hätten generell viele Freizeitalternativen zur zeitaufwendigen politischen Arbeit.

Niedermayers Fazit: Es gibt heute keine wirksamen Patentrezepte für die Parteien, die diese gesellschaftlichen Entwicklungen auffangen und den Trend zum Mitgliederschwund umkehren könnten. Auch im Ausland nicht, wo die Parteien zurzeit mit vergleichbaren Problemen kämpfen.

Wie also neue Mitglieder gewinnen und die bestehenden inspirieren? Im Berliner Willy-Brandt-Haus beschäftigt sich ein ganzer „Arbeitsbereich“ mit dieser Aufgabe. Die SPD habe seit 2011 Mitgliederbeauftragte auf allen Ebenen, erklärt ein Parteisprecher. Die Zentrale liefere „Tipps und Hinweise“ an die Ortsvereine, wie man die Neuzugänge betreuen könne. „Das beste Mittel, um neue Mitglieder zu gewinnen, ist es, Menschen persönlich anzusprechen“, heißt es bei der Partei, die Ende 2015 knapp 443 000 Mitglieder gezählt hat.

Das Zauberwort der Grünen (60791 Mitglieder Anfang November) ist „Willkommenskultur“. Die Landesverbände würden viermal im Jahr Treffen für Neumitglieder veranstalten, auch gemeinsame Weihnachtsfeiern seien üblich, erzählt Bundesgeschäftsführer Michael Kellner. Denn: „Unsere Partei versteht sich als eine soziale Institution.“ Die Grünen locken Anhänger an mit der Möglichkeit, viel mitzubestimmen – wie jetzt bei einer Urwahl, die der Partei alleine im Oktober 850 neue Mitglieder eingebracht hat.

„Wir setzen viel auf Facebook, Twitter, Instagram und WhatsApp. Doch der überwiegende Teil der Neumitglieder wird durch direkte Ansprache gewonnen“, sagt Kellner. Offenbar nicht ohne Erfolg: Die Grünen rechnen Ende 2016 mit einem neuen Mitgliederrekord.

Die FDP mit 53 800 Mitgliedern will über ihre Strategie wenig verraten. Nur so viel: Einen Beauftragten brauche man nicht, die Mitgliederwerbung erfolge in der normalen Parteiarbeit. Die Linke und die 2016 nach eigenen Angaben stark gewachsene AfD (58 645 beziehungsweise 26 000 Mitglieder) ließen die entsprechenden Anfragen unbeantwortet.

Der Trump-Effekt

Der Wahlsieg von Donald Trump in den USA hat den Parteien im November eine Welle von Neueintritten beschert. Bei den Grünen sollen es „einige Hundert“ gewesen sein und 1900 bei der SPD – doppelt so viel wie in den „normalen“ Monaten. Parteienforscher Niedermayer erklärt dieses Phänomen mit den spontanen Reaktionen von jungen Menschen, die sich gegen den Populismus wehren. Eine Trendumkehr sieht er aber nicht.

Niedermayer glaubt, dass auch die Bundestagswahl 2017 das Schrumpfen von Parteien in Deutschland bestenfalls abmildern könnte: „Es wird einen Mobilisierungseffekt geben, aber er wird nicht nachhaltig sein“. Zu pessimistisch will Henning Otte die Zukunft seiner Partei aber doch nicht sehen. „In diesen unruhigen Zeiten ist es für die Menschen besonders wichtig, Stabilität und Kontinuität zu haben“, sagt der CDU-Retter – und freut sich darüber, dass die erneute Kandidatur Angela Merkels für die Kanzlerschaft im Herbst zahlreiche Neueintritte ausgelöst habe.