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Schlussspurt

Boris Johnsons Wahlkampf läuft aus dem Ruder

London / Lesedauer: 4 min

Premierminister Boris Johnson unterlaufen im Schlussspurt für die Wahl an diesem Donnerstag zwei Schnitzer
Veröffentlicht:12.12.2019, 06:00

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Wird Boris Johnson auf den letzten Metern nervös? Zweimal binnen 48 Stunden hat sich der britische Premierminister vor laufender Kamera eine Blöße gegeben, ausgerechnet im Schlussspurt für die Unterhauswahl an diesem Donnerstag.

Am Montag konfrontierte ihn ein Reporter mit dem Foto eines Vierjährigen mit Lungenentzündung, der wegen der Bettennot im Kinderkrankenhaus von Leeds auf dem Fußboden schlafen musste. Anstatt das Foto anzuschauen und angemessene Worte der Sympathie zu finden, steckte Johnson das Mobiltelefon des Reporters in die eigene Tasche und sprach weiter roboterhaft seine vorgestanzten Sätze in die Kamera. Später versuchten seine Spindoktoren, die Mutter des Buben als Labour-Sympathisantin und deshalb unzuverlässig zu denunzieren.

Am Mittwoch flüchtete der Vorsitzende der konservativen Regierungspartei vor einem lästigen Journalisten in einen begehbaren Kühlschrank. Ernüchtert von der Kälte versprach Johnson seinem Verfolger doch noch ein Interview, allerdings ohne Terminangabe.

Unbedeutende Szenen eigentlich, die in der Flut wohlinszenierter Bilder versinken. Und doch symptomatisch gerade wegen des Kontrasts zu der glatten, langweiligen, aus Parteisicht also praktisch perfekten Wiederwahl-Kampagne des 55-Jährigen, der von der konservativen Basis nicht zuletzt aufgrund seines Versprechens gewählt wurde, er sei ein exzellenter Volkstribun und Wahlkämpfer. Besser als seine hölzerne Vorgängerin Theresa May ist er zwar. Aber hätte man nicht gerade in leicht kniffligen Momenten ein wenig mehr Souveränität, Spontaneität, ja Witz erwarten dürfen?

Auf diese Attribute lief ja die Inszenierung hinaus, die den Briten die Wiederwahl der seit knapp zehn Jahren regierenden Konservativen nahelegen sollte. Er selbst sei erst seit etwa 130 Tagen im Amt, beteuerte er bei jeder Gelegenheit, distanzierte sich von der brutalen Sparpolitik der konservativ-liberalen Koalition (2010-15) unter David Cameron und von der Brexit-Blockade der glücklosen May. „Let’s get Brexit done“, den Brexit vollenden, diesen Slogan hat der Regierungschef dem Wahlvolk bis zur Bewusstlosigkeit um die Ohren geschlagen. Es ist der einzige Satz, der von dieser ersten Adventswahl seit knapp 100 Jahren im Gedächtnis bleiben wird.

Bestand denn Anlass zur Nervosität? Bis zuletzt prognostizierten die Marktforscher den Torys einen deutlichen Vorsprung vor der Labour-Opposition unter Jeremy Corbyn und damit eine absolute Mehrheit der Mandate im nächsten Unterhaus. Freilich war der Firma YouGov zufolge das Polster seit Anfang des Monats ein wenig abgeschmolzen, die Mehrheit kleiner geworden – eine fast perfekte Vorlage für Johnsons Last-Minute-Appell an das Wahlvolk, unbedingt am Donnerstag zu den Urnen zu gehen und ihm Rückhalt zu gewähren.

Von der Gefahr einer „Chaos-Koalition“ mit Corbyn in der Downing Street handelte auch der letzte Wahlwerbespot der konservativen Kampagne. Der Parteichef spielte eine Szene aus der weihnachtlichen Schmalzkomödie „Tatsächlich…Liebe“ nach. Wie dort ein unglücklich Verliebter seiner unerreichbaren Angebeteten wortlos die immerwährende Treue versichert, beschwor diesmal der passable Schauspieler Johnson mit Hundeblick und großen Papptafeln seine Zuhörerin, zur Wahl zu gehen und den Brexit zu ermöglichen. Kein Geringerer als Hollywood-Star Hugh Grant, in „Tatsächlich…Liebe“ der umjubelte Jung-Premier, sprach hinterher anerkennend von einem ziemlich gut gemachten Imitat. Allerdings wies der passionierte Brexit-Gegner darauf hin, im Original gebe es eine Papptafel mit der Aufschrift „An Weihnachten sagt man die Wahrheit“. Johnson diesen Satz hochhalten zu lassen, habe man wohl selbst unter Konservativen nicht für opportun gehalten.

Wenn es ein Dauerthema gegeben hat in den vergangenen Wochen, dann waren es die nagenden Zweifel der Briten an der Wahrheitsliebe ihres Premierministers. Politiker erzählten ja gern einmal Halbwahrheiten, sagt der frühere Generalstaatsanwalt Dominic Grieve. Wie aber Johnson „die Fakten ignoriert und dauernd lügt, das ist atemberaubend – und neu in der britischen Politik“. Die Unwahrheit zu sagen, glaubt der „Times“-Kolumnist Matthew Parris, falle Johnson „so leicht wie das Atmen“.

Grieve hat die Tory-Partei ebenso verlassen wie viele andere Liberalkonservative, angeführt von den beiden früheren Finanzministern Kenneth Clarke und Philip Hammond, sogar Johnsons jüngeren Bruder Joseph eingeschlossen. Dieser sprach vom Dilemma zwischen familiärer Loyalität und dem Staatswohl. Tatsächlich lässt das konservative Wahlprogramm die Möglichkeit offen, dass der für Großbritannien ruinöse Chaos-Brexit am Ende der Übergangsfrist in knapp 13 Monaten doch noch eintritt.

Den Briten, so suggerieren es die Umfragen, ist das egal. Hauptsache, im vierten Anlauf klappt Ende Januar endlich der EU-Austritt. Den Oppositionsführer Corbyn halten sie mehrheitlich für integer, aber unfähig; die Liberaldemokratin Jo Swinson für arrogant und naiv; die schottische Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon gilt als kompetent, aber einzig an der Unabhängigkeit ihrer Nation interessiert. Dass es der Opposition nicht gelang, eine einheitliche Anti-Brexit-Front zu bilden, dürfte Johnsons Rettung bedeuten. Begeisterung sieht anders aus.