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Behördenfehler

Behördenfehler begünstigten zu Breitscheid-Attentat

Berlin / Lesedauer: 4 min

Wie ein islamistischer Terrorist unter den Augen der Sicherheitsbehörden auf dem Breitscheidplatz zwölf Menschen töten konnte
Veröffentlicht:24.06.2021, 09:00

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Berlin , 19. Dezember 2016, 20 Uhr. Der islamistische Terrorist Anis Amri fährt mit einem Sattelzug über den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz und ermordet zwölf Menschen, 67 weitere werden verletzt. Wie das geschehen konnte, obwohl die Behörden Amri über ein Jahr lang als einen der gefährlichsten Männer in Deutschland im Visier hatten, hat zahlreiche Untersuchungsausschüsse beschäftigt, auch im Bundestag. Dieser debattiert und beschließt am Donnerstag den Abschlussbericht. Die Schlüsse, die aus der dreieinhalb Jahre dauernden Aufklärungsarbeit gezogen werden, sind dabei sehr unterschiedlich.

Die Zeit davor dem Anschlag

Dass von Amri eine große Gefahr ausgeht, war den Behörden schnell klar, nachdem er im Juli 2015 nach Deutschland kam. Er wechselte zwar häufig seinen Aufenthaltsort, doch es gab eine Konstante: Er bewegte sich „ununterbrochen in mehreren islamistischen beziehungsweise kriminellen Netzwerken, die ihrerseits über besonders zentrale Figuren miteinander vernetzt waren“, stellen FDP , Grüne und Linke in ihrem Sondervotum zu dem insgesamt über 1800 Seiten umfassenden Abschlussbericht fest. Eine Schlüsselrolle in der endgültigen Radikalisierung Amris spielte der Prediger Abu Walaa, mutmaßlicher Deutschland-Chef des sogenannten Islamischen Staats (IS), im Februar zu zehneinhalb Jahren Haft verurteilt. Amri stand direkt und über Mittelsmänner mit ihm in Kontakt, erbat um Erlaubnis für einen Anschlag in Deutschland. All das wussten die Behörden, weil sie eine Vertrauensperson in Walaas nächsten Umfeld hatten; Tarnname: VP-01. Dazu kommt noch, dass Amris Kommunikation teilweise in Echtzeit von den Behörden gelesen werden konnte.

Wieso konnte der Anschlag trotzdem nicht verhindert, wie konnte Amri ab dem Sommer 2016 gar aus den Augen verloren werden?

Wegen der überaus schlechten Zusammenarbeit zwischen den Landeskriminalämtern (LKA) Nordrhein-Westfalens und Berlins sowie dem Bundeskriminalamt (BKA) und dem Verfassungsschutz. VP-01 spitzelte für das LKA NRW, die Behörde schlug Alarm, weil sie Amris Gefährlichkeit korrekt einschätzte. Die Grünen-Obfrau Irene Mihalic sagt dieser Zeitung: „Am Anfang der Aufklärung wurde NRW ein bisschen Unrecht getan. Es sind Fehler passiert, aber bei der Gefährlichkeitseinschätzung hatten sie den richtigen Riecher.“

Selbiges lässt sich nicht vom LKA Berlin behaupten. Dort wurde Amris Gefahr heruntergespielt, weil er Drogen verkaufte und Pornos konsumierte. Das sei „unislamisches Verhalten“, so gefährlich könne er dann wohl nicht sein. Dabei wurde genau dieses Verhalten in einem bekannten Handbuch des IS den Anhängern nahegelegt. Von FDP-Obmann Benjamin Strasser in einer Befragung darauf angesprochen, gab die Sachbearbeiterin des LKA Berlin – die hauptberuflich mit islamistischen Gefährdern zu tun hatte – an, das Buch nicht zu kennen. „Unglaublich“ findet das Strasser. Auch Unions-Obmann Volker Ullrich bilanziert „wirklich grobe Fehleinschätzungen des LKA Berlin“.

Das BKA nahm die Warnungen aus NRW ebenfalls nicht ernst genug. Selbst nach einem Krisengespräch, in dem das LKA offenlegte, woher die VP-01 ihre Informationen hat und wieso deren Warnungen so ernst zu nehmen sind, passierte nichts. Einzelne Beamte wehrten sich dagegen, ihre Gefahrenanalyse zu überdenken.

Nach dem Anschlag

Der damalige Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen steht im Mittelpunkt der Fehlerkette, die nach dem Anschlag begann. Er vertrat zwei zentrale Thesen der Sicherheitsbehörden: Amri sei ein „Einzeltäter“ gewesen, außerdem handele es sich um einen „reinen Polizeifall“. Zwar gehen alle davon aus, dass Amri am Steuer des Lkw saß, doch von einem Einzeltäter kann man wahrlich nicht sprechen bei einem Mann, der fester Bestandteil der islamistischen Szene war, mit anderen Anschläge plante, der kurz vor der Tat andere Gefährder traf und in die berüchtigte Fussilet-Moschee ging – auch da herrscht mittlerweile Einigkeit.

Die „reiner Polizeifall“-These hatte den Zweck, von der eigenen Verantwortung abzulenken. Ullrich (CSU) hält sie für „schlichtweg nicht zutreffend“. Die Grüne Mihalic sagt: „Der Verfassungsschutz war von Anfang an involviert. Er ist seiner Aufgabe nicht nachgekommen.“ Spätestens als Amri vom Radar des LKA Berlin verschwand, hätte er aktiv werden müssen.

Welche Lehren wurden aus dem Fall Amri gezogen?

Hier gehen die Meinungen zwischen Koalition und Opposition naturgemäß am meisten auseinander. SPD-Obmann Fritz Felgentreu sieht in RADAR-iTE, einem standardisierten Risikobewertungsinstrument für islamistischen Terrorismus, einen „großen Fortschritt“. Auch die Union betont, dass viele Lehren bereits gezogen wurden.

Die Opposition sieht ähnliche strukturelle Defizite wie schon beim NSU-Komplex und stellt das förderale Sicherheitsgefüge grundsätzlich in Frage. Strasser (FDP): „Wenn der Föderalismus nicht reformfähig ist, werden die Bürger ihn irgendwann komplett in Frage stellen.“ Er sieht dann auch im Fall Amri in der Tendenz 30 Prozent menschliches und 70 Prozent strukturelles Versagen. Für CSU-Obmann Ullrich ist das Verhältnis eher 80 zu 20. Und die SPD? Felgentreu sagt: 50:50.