StartseitePolitikAmina – Mädchen in den Händen des Terrorchefs

Terror

Amina – Mädchen in den Händen des Terrorchefs

Ravensburg / Lesedauer: 11 min

Die junge Jesidin war Sklavin des IS und erzählt von der Barbarei unter den Fundamentalisten im Irak
Veröffentlicht:02.12.2016, 09:52

Artikel teilen:

Wer flieht, dem droht der Tod!“ Das war uns Mädchen klar, doch wir ahnten nicht, dass uns noch viel Schlimmeres bevorstand, nachdem die IS-Wachen uns zu viert im Garten geschnappt hatten. Wenn man sich mit 14 Jahren so alt fühlt, dass es einem vorkommt, als könnte man den nächsten Morgen nicht mehr überstehen, fürchtet man den Tod nicht mehr. Wir sind ein zweites Mal davongelaufen. Und diesmal sind wir unseren Folterknechten entkommen!

Im November 2014 nahm mich mein Onkel im kurdischen Teil des Irak in seiner Familie auf. Gemeinsam verfolgten wir nach dem Abendessen die Nachrichten im Fernsehen. Als hätte ich einen Stromschlag erhalten, zuckte ich zurück und stammelte, mit dem Finger auf den Bildschirm deutend: „Bei … bei … bei diesem Mann war ich auch!“ Damals war er anders gekleidet gewesen, trug nicht dieses schwarze lange Gewand und den schwarzen Turban. Unverkennbar jedoch waren das breite Gesicht wie das eines Bauern und der schwarze Vollbart mit weißen Strähnen.

Mich als sein Eigentum betrachtet

Mein Onkel wurde kreidebleich. Plötzlich haben sich die Ereignisse nur so überschlagen. Der US-Geheimdienst wollte mit mir sprechen. Und schon kurze Zeit später hat man mich außer Landes nach Deutschland geschafft. Bis dahin hatte ich keine Ahnung gehabt, dass es Abu Bakr al-Baghdadi persönlich gewesen war, der mich als sein Eigentum betrachtet hatte. Zweieinhalb Monate lang war ich in Händen des selbst ernannten Kalifen, des Anführers der Terrormiliz Islamischer Staat , des meistgesuchten Terroristen der Welt.

Seitdem ich in ihrer Gefangenschaft war, fühle ich mich hässlich. Ich bin Jesidin. Mein Haar ist lang und schwarz gelockt. Ich bin dünn. Meine Augen sind groß und schwarz wie Kohle. Die Schatten darunter sind tief. Meine Haut ist weiß wie mein T-Shirt. Ich bin in einer aufgeschlossenen und modernen Familie aufgewachsen. Bis zum 3.August 2014, dem Tag des Überfalls, lebte unsere Familie gut. Mein Vater ist Lehrer und meine Mutter Hausfrau. Ich besuchte die 10. Klasse, hatte einigermaßen gute Noten und viele Freunde. In der Schule unterrichteten uns sowohl arabische, kurdische als auch jesidische Lehrer, die eigentlich alle nett waren. Ich beherrsche Arabisch, Kurdisch sowie ein bisschen Englisch. Richtige Hobbys hatte ich nicht, aber ich habe gerne gelesen und oft kurdische Musik gehört.

„Ihr bleibt im Haus.“

In den Schulferien ist unsere Familie immer aufs Land zu unseren Verwandten gefahren. Diese Ausflüge haben mir großen Spaß gemacht. Besonders schön fand ich die Abende im Sommer, wenn es langsam dunkel und kühler wurde. Dann saßen alle bis in die frühen Morgenstunden zusammen. Die Alten erzählten ihre Geschichten, wir Mädchen hörten gespannt zu oder haben uns zurückgezogen, gequatscht und gespielt. Meine Mutter hat uns Kindern das Gefühl gegeben, dass wir das größte Geschenk auf der Welt seien.

Am 3. August, wir wollten nach dem Frühstück zur Schule aufbrechen, hörten wir lautes Geschrei auf den Straßen. „Was ist das?“, fragte Mutter. Sofort sind wir Geschwister an die Fenster gestürzt und haben hinausgeblickt. Kopflos wie die Hühner vor dem Fuchs rannten die Leute da draußen kreuz und quer herum. Vater ist hinausgegangen und hat mit den Nachbarn gesprochen, die wiederum gehört hatten, dass der IS nun auch im Shingal-Gebiet einmarschiert sei. „Ihr bleibt im Haus“, verlangte er daraufhin von uns. Vater hielt noch das Handy in der Hand, als er uns plötzlich zurief: „Schnell, steigt alle ins Auto! Wir müssen versuchen, die Berge zu erreichen.“ Kurz vor dem Ausgang der Stadt riegelten schwarz gekleidete Männer mit langen Bärten die Straße ab. „Verdammt!“, entfuhr es Vater. Er stoppte, stieg aus und versuchte, sich ruhig mit diesen IS-Kämpfern zu verständigen. Doch seine Stimme war in ihrem Geplärre draußen überhaupt nicht zu hören. Zerknirscht ließ Vater den Motor wieder an. „Wir sollen zurück nach Hause fahren und dort warten, bis sie kommen.“

„Packt ein paar Sachen und kommt mit!“

Zu Hause haben wir sofort alle Fenster geschlossen, uns im Dunkeln auf das Sofa gesetzt und die Nachrichten im Fernseher eingeschaltet. Ständig hat Vaters Handy geklingelt. „Flieht! Lauft um euer Leben!“ Vater hielt uns fest umfasst, aber zum ersten Mal habe ich ihn so niedergeschlagen gesehen. Meine Familie war für mich immer ein Schutz gegen das Böse.

Dann durchsuchten die IS-Milizen ein Haus nach dem anderen und trommelten mit den Fäusten gegen die Tür. Vater machte sofort auf. Die Bärtigen trieben ihn mit ihren Kalaschnikows vor sich her, verlangten nach unseren Ausweisen und schrieben alle unsere Namen nacheinander auf. „Ihr wartet hier! Wir kommen gleich wieder“, schnauzten sie. Diese Dschihadisten wirkten sehr bedrohlich, schmutzig und sprachen auch nicht durchweg ein gutes Arabisch.

Zwei Stunden verstrichen, bis erneut eine Gruppe mit IS-Kämpfern unser Wohnzimmer belagerte. „Packt ein paar Sachen und kommt mit!“ Sie verlangten unsere Wertsachen und drohten, uns zu töten, wenn sie danach noch etwas bei uns finden würden. Mutter hat so große Angst bekommen, dass sie unser gesamtes Geld und Gold unter ihrem Rock und aus ihren Ärmeln hervorkramte und ihnen aushändigte. Am nächsten Tag haben sie uns mit anderen Einwohnern in einen Bus in Richtung Mossul gesetzt, der zweitgrößten Stadt im Irak, vielleicht 120 Kilometer entfernt. Im Vorort Badusch, vor einem der größten Gefängnisse im Land, mussten wir wieder aussteigen. Bis es dämmerte, verbrachten wir gemeinsam unsere letzten Stunden in einer Zelle. Danach habe ich meinen Vater, meine Brüder und meine Mutter nie wieder gesehen. Fassungslos versuchte ich noch, Mutter am Arm festzuhalten, aber da schlugen diese Maskierten mit Stöcken auf sie ein. Augenblicklich habe ich sie wieder losgelassen, doch ich konnte nicht mehr aufhören zu rufen: „Mama! Mama!“ Mit langen Schritten schnellten diese Typen auf mich zu, stießen mich in die Ecke und knurrten: „Wenn du nicht sofort still bist, werden wir deinen Vater gleich hier an Ort und Stelle erschießen.“ Vater wollte protestieren, doch als er mich so am Boden sah, schluckte er seine Worte wieder hinunter. „Amina, tu das, was sie sagen.“ Er warf mir einen schmerzvollen Blick zu und drehte sich um.

„Das ist alles nicht so schlimm …“

In dieser Zelle befanden sich noch etwa 60 bis 70 Mädchen, alle zwischen 10 und 16 Jahre alt. Sie stammten aus verschiedenen Dörfern im Shingal-Gebiet. Untereinander haben wir kaum gesprochen, weil meine Kehle wie zugeschnürt war und ich nur noch meine Schwester festhalten wollte. Von draußen hörten wir Schüsse und Schreie. Solche Schreie hatte ich vorher noch nie gehört. Wir machten uns noch kleiner, und ich zog den Kopf meiner Schwester Leyla noch fester an meine Brust. „Das ist alles nicht so schlimm …“ Wieder kamen sie in der Nacht, als wir vor Müdigkeit nicht mehr wussten, wo wir waren. „Aufstehen!“ Sie haben uns mit ihren Stiefeln getreten, an den Zöpfen gerissen und vorwärts geschubst.

Noch nie zuvor hatte mich jemand so grob angepackt. Draußen wartete bereits ein Bus, der nach etwa 15 Kilometern in Mossul hielt. Ich kannte die Stadt, weil ich dort bereits mehrmals mit Vater zum Einkaufen gewesen war. 18 Tage lang haben sie uns Mädchen in einer Villa gefangen gehalten, in der vor Kurzem offenbar noch Christen gelebt hatten. In die Mauern waren viele Kreuze eingemeißelt, und die IS-Kämpfer haben dauernd wie die Verrückten versucht, diese Zeichen mit Hammer und anderen Werkzeugen herauszukratzen und zu zerstören.

Jeden Tag schlurften irgendwelche Männer vorbei und haben sich Mädchen ausgesucht. Wer von uns sich gewehrt hat, wurde geschlagen. Am 18. Tag verlangten zwei IS-Milizen nach meiner kleinen Schwester. An meinem Bauch spürte ich den Herzschlag meiner Schwester, so stark hielten wir uns umschlungen und gemeinsam flehten wir: „Bitte, nehmt uns wenigstens zusammen mit!“ Mich aber hat der eine festgehalten, während der andere mir meine Schwester aus den Armen gerissen und sie weggetragen hat. Leyla hat fürchterlich um sich geschlagen, gebrüllt, sich aufgebäumt, aber es half nichts. Und so saß ich allein an der Wand. Ohne meine Schwester. Ohne meine Familie. Mutterseelenallein.

„Ich bin Jesidin, ich sag das nicht.“

Am nächsten Tag tauchte ein Emir mit seinem Gefolge auf. Man erkannte gleich, welche Macht er besaß, weil sich alle Wachen vor ihm verbeugten und mit eingezogenen Köpfen zurückwichen. Mit dem Finger auf mich deutend, hat dieser Emir beschlossen: „Die bleibt erst einmal hier, die nehme ich woandershin mit.“ Jener Emir hat zwölf Mädchen und mich über einen langen Weg durch die Wüste nach Rakka, in die Hochburg des IS, transportiert. Vor Ort hat er unsere Gruppe aufgeteilt und vier von uns in einem sehr großen Haus abgesetzt. Wir vier waren völlig ausgehungert. Das Mädchen, das neben mir seinen Reis aß, war 13, ein Jahr jünger als ich, die zweite war gleichaltrig und die dritte war 15, ein Jahr älter als ich. In jenem Haus herrschten wie Drachen drei Frauen, vor denen alle die Köpfe eingezogen haben, die Wachen mit ihren Kalaschnikows genauso wie die Hausmädchen mit ihren Besen. Eine dieser Befehlshaberinnen baute sich vor uns im Zimmer auf. Sie wirkte bedrohlich in ihrem langen, dunklen Gewand, die halbe Stirn, Ohren, Hals, Ausschnitt und jedes einzelne Haar fein säuberlich unter dem Hijab versteckt. Mit scharfer Stimme stellte sie klar, dass wir ab sofort Musliminnen seien und uns auch wie solche zu verhalten hätten. Als Zeichen unseres Einverständnisses sollten wir dreimal hintereinander sagen: „Allah ist groß und Mohammed ist sein Prophet.“ Als ich mich weigerte, das nachzusprechen, hat sie mir eine geknallt. Weinend presste ich zwischen den Lippen hervor: „Ich bin Jesidin, ich sag das nicht.“

Daraufhin hat sie mir erneut ins Gesicht geschlagen und scharf den Atem eingezogen. „Ich werde jetzt den Wächter holen“, keifte sie, „und der wird dich vergewaltigen, wenn du nicht sofort dieses Bekenntnis nachsprichst.“ Seltsamerweise war meine Erschütterung über ihr Verhalten größer als meine Furcht. Ehrlich gesagt, verstand ich auch nicht genau, was mit Vergewaltigung gemeint war. Ich ahnte zwar, dass es etwas Fürchterliches sein musste, habe aber trotzdem nur den Kopf geschüttelt. Umgehend hat sie nach einem der Bewaffneten im Flur verlangt und ihm angeordnet: „Zieh sie aus! Nimm sie dir!“ Da stotterte ich nur noch: „J-j-ja, i-ich sag den Satz.“

„Steht auf!“

Einige Stunden später haben wir verstanden, vor wem sich alle fürchteten. Ein Mann trat in unser Zimmer. Braune Augen, olivfarbener Hautton, kräftige Augenbrauen, schwarzer Vollbart. Normale Kleidung, wie die IS-Anhänger sie auch auf der Straße trugen. Eine lange Pluderhose mit einem Hemd, das bis zu den Knien reichte. Er wirkte nicht irgendwie ungewöhnlich oder besonders. „Steht auf!“, gebot er streng. Vom Alter her hätte er unser Vater sein können.

Der Reihe nach fragte er unsere Namen ab und wollte von uns bestätigt haben, dass wir Muslime seien. Wir wagten nicht, uns zu rühren oder gar aufzusehen. Wir schwiegen zunächst, da fragte er noch einmal harsch nach. Und im nächsten Augenblick verpasste er mir einen so harten Schlag ins Gesicht, dass ich nach hinten umfiel und mit dem Kopf aufschlug. Das Haar im Gesicht, stützte ich mich auf und hielt mir auf dem Teppich liegend die Wange. Bevor er hinausging, warf er mir noch einen letzten Blick zu und befahl einem seiner Untergebenen, mich in das andere Zimmer zu bringen. Dann drehte er sich um und verschwand.

„Zieh dich aus!“

Der Wächter packte mich am Handgelenk und zog mich in den Nebenraum, der nur ein paar Meter weiter entfernt war. Fast wie einen Ball hat er mich in das Zimmer hineingeworfen und die Tür hinter sich abgeschlossen. Schnell rappelte ich mich wieder hoch und lief zur Tür. Angespannt lauschte ich, mit dem Ohr nah am Holz, nach Geräuschen. Keine Schritte. Nur mein Herzschlag. Stunde um Stunde verstrich. Langsam beruhigte sich mein Puls wieder, zerschlagen ließ ich mich auf das Bett sinken und fiel betäubt in den Schlaf.

In der Nacht hörte ich auf einmal, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte, und ich erkannte diesen Mann mit dem schwarzen Bart und den weißen Strähnen darin, der wieder irgendetwas über Religion redete. Und ich solle keine Angst haben, er werde mich gut behandeln. Doch seine Stimme klang sehr böse dabei. Bis dahin hatte ich eine neue Predigt über den Islam erwartet, nun aber verlangte er plötzlich: „Zieh dich aus!“