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Steil, steiler, am steilsten – Mit dem Rennrad unterwegs am Comer See

Bellagio / Lesedauer: 6 min

Am Comer See kommen Rennradfahrer auf ihre Kosten und an der Muro di Sormano an ihre Grenzen
Veröffentlicht:08.04.2022, 05:00

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Am Comer See kommen Rennradfahrer auf ihre Kosten und an der Muro di Sormano an ihre Grenzen. Radeln an dem lombardischen See geht aber auch ganz gemütlich.

Es ist ein elendiges Gewürge. Selbst im Wiegetritt mit vollem Körpergewicht auf den Pedalen bewegt sich die Kurbel nur widerwillig. Mit jedem Meter auf dem supersteilen Sträßchen fällt die Geschwindigkeit tiefer in den gefährlichen Grenzbereich. Noch ein bisschen langsamer und das Rennrad kippt mitsamt Fahrer auf den lombardischen Asphalt. Kratzer am teuren Karbonrahmen und an den Knien wären die Folge – ganz zu schweigen von den Schrammen auf der Rennradfahrerseele. Trotzdem: Freiwillig absteigen und schieben kommt nicht infrage.

Die Muro di Sormano führt Körper und Geist an ihre Grenzen. Genau das war die Absicht von Vincenzo Torianni, der 1960 als Organisator der Lombardei-Rundfahrt die nur knapp zwei Kilometer lange, aber bis zu 25 Prozent steile Abkürzung zwischen Sormano und der Passhöhe Colma di Sormano in die Strecke einbaute. Auch in den beiden Folgejahren musste sich das Feld bei diesem Radsport-Klassiker die Mauer von Sormano hochquälen. „Dann weigerten sich die Fahrer und die Muro wurde für 50 Jahre aus der Streckenführung gestrichen“, hatte Luca Negri im unteren, etwas weniger steilen Abschnitt erzählt – als Sprechen noch möglich war.

Der 36-Jährige betreibt einen Radverleih in Bellagio , einem pittoresken Städtchen am Ufer des Comer Sees. Zudem zeigt er als Guide rennradbegeisterten Gästen die schönsten Sträßchen der Gegend. Und von denen gibt es hier genügend. Die Muro di Sormano zählt nach Lucas Geschmack nicht dazu und wird auch nur auf ausdrücklichen Gästewunsch in die Runde integriert. „Freiwillig fahre ich da nicht hoch“, hatte Luca beim Start zugegeben und den Helm über seine schwarze Lockenpracht gestülpt.

Eine Tortur für Radprofis und Hobbysportler

Erst 2006 war auf private Initiative hin der Straßenbelag der legendären Rampe auf der Landzunge zwischen den beiden südlichen Seebeinen erneuert worden. Seitdem ist jeder Höhenmeter mit weißer Farbe vermerkt – was die Tortur weder für die Radprofis noch den Hobbysportler erträglicher, vielmehr schmerzhafter macht, wenn die Waden am Limit sind und der Kopf weiß, wie viele Höhenmeterangaben noch kommen werden. Steigt man jedoch oben keuchend vom Rad, macht beim Cappuccino auf der Panoramaterrasse der Stolz über die eigene Heldentat das Leiden rasch vergessen. Die Muro di Sormano ist eben ein echter Radsportmythos. Gleiches gilt für die der Madonna del Ghisallo gewidmeten Wallfahrtskirche im nahegelegenen Magreglio. Das kleine Gotteshaus hat sich zur Pilgerstätte für Radsportverrückte entwickelt. 1948 hatte Papst Pius XII. die Madonna del Ghisallo zur Schutzpatronin der Radsportler ernannt. Fausto Coppi, Gino Bartali , Francesco Moser, Marco Pantani und andere Größen des italienischen Rennradwesens haben seitdem Räder, Trikots, Trophäen und andere Devotionalien gespendet. Weil in der Kapelle kein Platz mehr war, wurde 2007 nur wenige Schritte weiter ein Radsport-Museum eröffnet.

Wer stilecht mit dem Rad die ebenso legendären, aber verglichen mit der Muro di Sormano deutlich harmloseren 500 Höhenmeter von Bellagio zum Museo del Ciclismo hoch kurbelt, darf am Eingang seine Klickpedal-Schuhe gegen gehfreundliche Kunststoffpantoffeln tauschen. In dem lichtdurchfluteten Museumsraum erzählen Rennräder verschiedenster Epochen den rasanten technischen Fortschritt. „Die Schaltung Cambio Corsa von Campagnola mit den beiden Hebeln an der Sattelstrebe war eine echte Revolution“, erklärt Negri mit leuchtenden Augen. Er steht vor einem filigranen Exponat, auf dem die italienische Radsportlegende Gino Bartali nach dem Krieg zahllose Siege eingefahren hat. „Bartali konnte am besten mit der Cambio Corsa umgehen. Das war einer der Gründe für seine Erfolge“, meint Negri. Mit Blick nach vorne mussten die damaligen Helden der Landstraße nach den Schalthebeln Richtung Hinterrad greifen und gleichzeitig kurz rückwärts treten. Man mag sich gar nicht vorstellen, wie viele von Bartalis minder begabten Gegnern dabei die Finger in die Speichen bekamen ...

Radfelgen aus Holz

Nur wenige Kilometer entfernt vom Museo del Ciclismo trifft die Radsportvergangenheit auf die Gegenwart. In einer unscheinbaren Werkstatt fertigt Antonio Cermenati in dritter Generation Radfelgen an – aus Buchenholz. „Holz ist relativ leicht, besitzt aber eine hohe Steifigkeit und bietet einen besseren Fahrkomfort als Alu oder Karbon“, erklärt Antonios Sohn Roberto dem verdutzten Besucher. Der Filius ist für das Marketing zuständig. Zu den Abnehmern zählen Rennradfreaks aus der ganzen Welt, die ihrem Rad eine ganz besondere Note geben wollen, berichtet Roberto. Er nimmt eine der erlesenen Cermenati-Felgen, die sich wie Hula-Hoop-Reifen überall in der Werkstatt stapeln, und reicht sie seinem Vater, der mit dem Schleifpapier die Feinarbeit vornimmt.

War der Anstieg dank der Muro di Sormano eine Qual der allerschlimmsten Art, entwickelt sich die Abfahrt schnell zum wahren Genuss. Der Freilauf schnurrt und bald schon bieten die Haarnadelkurven grandiose Aussichten auf den Comer See. Kein Wunder, dass George Clooney rund elf Millionen Euro in die Villa Oleandra am gegenüberliegenden Ufer investiert hat. Luca Negri ist dem US-Schauspielstar ewig dankbar dafür. Denn viele seiner Radgäste kommen aus Amerika. Sie kennen den Comer See nur, weil ihr berühmter Landsmann dort eine Immobilie besitzt. Und sie wissen: Wo Clooney ein Haus kauft, da muss es einfach traumhaft schön sein.

Den See stets im Blick

Tatsächlich machen das angenehme Klima, die üppigen Gärten, das beinahe mediterrane Flair, der glasklare See, die Berge und die unaufgeregte Atmosphäre – sieht man von den touristischen Hotspots an der Seepromenade in Bellagio oder Varenna ab – den Comer See zum perfekten Ferienziel. Und das lässt sich bestens mit den Rennrad erkunden. Auch dank der Fährboote, die die größeren Orte verbinden und meist Räder transportieren – ein wichtiger Faktor bei der Tourenplanung. Denn die Uferstraßen sind nicht gerade verkehrsarm, wenngleich am Wochenende scharenweise heimische Rennrad-Ragazzi in ihrem todschicken Outift am See entlangrollen.

Wer auf eine der ruhigen Nebenstraßen abbiegt, die in die umliegenden Berge führen, wird reichlich belohnt. Ganz besonders gilt das für den Abstecher bei Varenna auf die Via per Esino, die sich 17 Kilometer lang zum Passo di Agueglio hoch schlängelt. Dank der Serpentinen gewinnt man komfortabel an Höhe. Keine Spur von Qual. Muss man tatsächlich anhalten, dann nicht weil die Beine brennen, sondern wegen der großartigen Aussicht auf den See. Es ist ein Anstieg mit knapp 1000 Höhenmetern, auf denen kaum Autos oder Motorräder den meditativen Rhythmus aus Treten und Atmen stören. Und mit jedem Meter steigt die Freude auf die Abfahrt. Denn die ist garantiert wieder mit Seeblick.