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Matera: Vom Armenhaus zum Filmstar

Matera / Lesedauer: 6 min

Die Höhlenstadt Matera in der Basilikata galt einst als Armenhaus und lockt heute Touristen und Filmemacher an.
Veröffentlicht:13.05.2022, 05:00

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Matera ist ein magischer Ort. Zumal wer nach Sonnenuntergang hier ankommt, ist augenblicklich dem Zauber erlegen. Nur wenige Schritte sind es vom gastlichen Palazzo in der Via Luigi La Vista bis zur belebten Piazza Vittoria Venuto mit dem Belvedere. Dort bestaunen die Menschen fast ehrfürchtig die Lichter der Sassi, die dem abendlichen Treiben eine unwirklich schöne Kulisse verleihen. Sassi bedeutet schlicht Steine. So nennen die Bewohner Materas ihre vor unvorstellbar langer Zeit in die steilen Felshänge geschlagene Höhlenstadt in der süditalienischen Region Basilikata nahe der Grenze zu Apulien.

Die Besiedlung der Sassi reicht 10 000 Jahre bis in die Jungsteinzeit zurück. Als ein Gebilde wie ein Wespennest muss man sie sich vorstellen, Tausende Behausungen aus weichem Tuffstein gehauen, wild neben- und übereinander wuchernd. Tagsüber haben die Treckingtouristen in der angrenzenden Murgia Materana den besten Blick. Der Naturpark gehört zum für die Region typischen steppenartigen Kalktafelland mit tiefen, wasserreichen, grünen Schluchten, über die sich die Stadt hier steil aufragend erhebt.

„Nationale Schande“

Dora Cappella, die in Matera aufgewachsen ist, begleitet Touristen durch das Labyrinth der Sassi, das Auf und Ab der engen Gassen und holprigen Treppen mit den aufwendig restaurierten Höhlen, die nun Kunsthandwerker beherbergen und Trattorien, Bars und Hotels. Wo der Gast heute die Annehmlichkeiten eines stilvollen Apartments mit Designerbad und Sauna genießen darf, lebte bis in die 1950er-Jahre eine achtköpfige Familie, ohne sauberes Wasser, zusammen mit Schweinen, Ziegen und Hühnern. Die Tiere logierten ganz hinten, erklärt Dora, damit die Menschen vorn noch etwas von ihrer Wärme zu spüren bekamen. Auch ihre Schwiegermutter sei 1947 in einer solchen Höhle geboren worden. Eine alte Schwarz-Weiß-Fotografie zeigt sie als Dreijährige beim Besuch des damaligen Ministerpräsidenten Alcide De Gasperi, der schockiert gewesen sein soll angesichts „dieser nationalen Schande“.

Schon 1945 hatte Carlo Levi , der von den Faschisten nach Süditalien verbannte Schriftsteller, Maler und Arzt, mit seinem Roman „Christus kam nur bis Eboli“ auf die erbärmlichen Lebensverhältnisse in den Sassi aufmerksam gemacht. 1952 verfügte die Regierung die Umsiedlung der rund 15 000 Menschen in neue Wohnblocks am Stadtrand. Aber erst 1968 haben die letzten Bewohner die Höhlen verlassen. Einige wären trotz allem lieber geblieben, es sei halt ihr Zuhause gewesen, sagt Dora. Als sie zur Welt kam, waren die Sassi längst von Feigenbäumen, Gestrüpp und Müll überwuchert. In den Siebzigern ließen sich die Hippies hier nieder. Da hatte bereits Materas Karriere als Filmkulisse begonnen, so 1964 für „Das Matthäusevangelium“ von Pier Paolo Pasolini oder 2003 für „Die Passion Christi“ von Mel Gibson. Inzwischen war sich die Stadt, die seit 1993 zum Unesco-Weltkulturerbe gehört, auch als Schauplatz für den neuesten „James Bond“ nicht zu schade.

Palazzi aus allen Epochen

Bei der Wahl zur Kulturhauptstadt Europas 2019 konnte Matera sich auch mit seinen Felsenkirchen hervortun, die in der charakteristischen Negativarchitektur erbaut worden waren. Unterhalb der Sassi in der Via Ridola zählt Dora „auf 300 Metern acht Klöster“, und wohin man blickt, erheben sich stolze Palazzi aus allen Epochen. In den Palazzo del Sedile ist das Konservatorium eingezogen. Hier bekommt, wer die Muße hat, zu jeder Tageszeit durchs offene Fenster Musik vom Feinsten zu hören. Im Palazzo Lanfranchi aus dem 17. Jahrhundert findet man das Nationale Museum für mittelalterliche und moderne Kunst der Basilikata. Besonders berührend sind die Porträts, die Carlo Levi von den einstigen Bewohnern der Sassi gemalt hat.

Mit seiner gewachsenen Prominenz und Strahlkraft soll Matera nun der ganzen Region mehr Bekanntheit verschaffen. Denn verglichen mit ihren Nachbarn Apulien und Kalabrien führt die Basilikata touristisch eher ein Schattendasein. Vielfach scheint es aber so, als ob eben dies ihren Reiz ausmacht. Die Reise von Matera über das antike Venosa und die lukanischen Dolomiten nach Maratea an der Tyrrhenischen Küste ist gespickt mit kulturellen und landschaftlichen Kleinodien. Venosa, an der einstigen Via Appia gelegen und der Geburtsort des Dichters Horaz, brachte es in der späten römischen Republik auch durch die Ansiedlung einer blühenden jüdischen Gemeinde zu wirtschaftlichem und kulturellem Reichtum. Die jüdischen Katakomben auf den Hügeln von Maddalena vor der Stadt geben Zeugnis davon. Die Gegend gehört zu der fruchtbaren Landschaft um den erloschenen Vulkan Monte Vultur. Weithin sichtbar über den Hügeln thront das Kastell von Melfi, wo einst der Staufer Friedrich II. als Kaiser des römisch-deutschen Reiches residierte und heute das Archäologische Nationalmuseum eine beeindruckende Sammlung von Funden aus dem Vultur-Gebiet präsentieren kann. Zwischen Weinbergen und Olivenhainen gibt es schmucke Gasthöfe zu entdecken, in denen mit viel Liebe verarbeitet und zubereitet wird, was der wertvolle Boden an Früchten hergibt.

Am Stahlseil von Dorf zu Dorf

Eine gute Autostunde weiter südlich ragen aus der sanften Landschaft abrupt die Piccole Dolomiti Lucane in den Himmel. Hier haben sich die Bergdörfchen Pietrapertosa und Castellmezzano als gemeinsame Attraktion den Volo dell’Angelo ausgedacht. Touristen können jetzt mit 120 Stundenkilometern in 400 Metern Höhe an einem Stahlseil hängend die anderthalb Kilometer zwischen den beiden Orten hin- und herfliegen. Spontan möchte man einwenden: Die malerisch in den Fels gepinselten Häuser samt den Trattorien mit ihrer typisch lukanischen Küche wären Attraktion genug gewesen. Ganz zu schweigen von dem, was der Naturpark für Wanderer, Kletterer, Mountainbiker und nicht zuletzt für Botaniker und Vogelbeobachter alles bereithält.

Mehr Möglichkeiten gibt es nur noch im mediterranen Maratea. Dort am Golf von Policastro öffnet sich die Basilikata zum Tyrrhenischen Meer, mit einer wilden, von Tropfsteinhöhlen durchzogenen Steilküste samt Klettersteigen diverser Schwierigkeitsgrade. Pinien, Olivenbäume und Steineichen wachsen den Monte San Biagio empor. Ganz oben wartet seit fast 60 Jahren die Erlöserstatue (Il Redentore) und zeigt auf das kleine Paradies hinab. Man sieht hübsche Sand- und Kieselstrände in bilderbuchmäßigen Buchten, einen gemütlichen kleinen Hafen, fast keine Bausünden, dafür eine belebte, gepflegte Altstadt mit bemerkenswerter weltlicher und sakraler Architektur. Auf dem vorgelagerten Eiland Isola di S. Ianni, heißt es, soll Odysseus auf dem Rückweg nach Ithaka Station gemacht haben.