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„Für viele Menschen ist diese Krise existenziell“

Panorama / Lesedauer: 10 min

Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbandes VdK, über die Probleme von Personen am Rand der Gesellschaft durch Corona und was sie sich für die Zukunft wünscht
Veröffentlicht:30.03.2020, 20:12

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Die Lindauerin und VdK-Präsidentin Verena Bentele, die seit ihrer Geburt blind ist, spricht im Interview mit Florian Kinast über ihre Schwierigkeiten im Alltag durch Corona, weshalb sie als frühere Goldmedaillengewinnerin der Paralympics die Verschiebung der Spiele begrüßt und was die aktuelle Krise für den Menschen womöglich Positives bewirkt.

Hallo Frau Bentele, erreichen wir Sie im Homeoffice?

Nein, ich sitze in meinem Büro in der Schellingstraße in München. Manches kann ich von zu Hause erledigen, aber wenn ich wie heute Termine habe, muss ich hier vor Ort sein. Allerdings bleibe ich immer auf Distanz zu Kollegen und Mitarbeitern.

Wie meistern Sie denn in Zeiten von Corona persönlich die neuen Alltagsherausforderungen? Gelingt es Ihnen, den geforderten Mindestabstand von zwei Metern immer einzuhalten, etwa in der U-Bahn?

Ich fahre nicht mehr so oft öffentlich, gehe jetzt immer zu Fuß von meiner Wohnung im Westend in die Arbeit und wieder zurück. Mit Navi am Handy, das klappt ganz gut. Ansonsten ist das schon eine Umstellung. Beim Einkaufen im Supermarkt etwa, da habe ich von Mitarbeitern Hilfe erhalten, bei denen ich mich dann auch mal am Arm orientiert habe, wenn es eng wurde. Geht jetzt nicht mehr, jetzt lasse ich mir von Freunden wichtige Dinge mitbringen. Auch joggen ist schwierig geworden.

Sie laufen da sonst auch immer zu zweit mit Begleitung?

Ja, verbunden mit einem Band, aber das ist nur etwa 30 Zentimeter lang, da wären wir jetzt dichter als der empfohlene Abstand aufeinander. Was gut ginge, wenn es wie früher im Biathlon wäre, als mein Begleitläufer so zwei, drei Meter vor mir lief und mir Richtungskommandos zurief. Da könnte der Abstand größer sein. Vielleicht sollten wir das demnächst mal ausprobieren, beim Joggen im Englischen Garten oder an der Isar.

Welche Herausforderungen stellen die Alltagsbeschränkungen jetzt ganz generell Menschen mit Behinderung, die nicht so selbstbewusst und selbstsicher unterwegs sind wie Sie?

Viele Menschen mit Behinderungen haben derzeit besondere Schwierigkeiten. So ist es für Menschen mit kognitiven Einschränkungen oft schwierig, die aktuelle Krise zu verstehen. Dass zum Beispiel Umarmungen nicht gut sind, dass Treffen mit anderen Menschen nur eingeschränkt möglich sind oder dass die Arbeit in einer Werkstatt oder im regulären Arbeitsmarkt nicht unbedingt weitergeführt werden kann, ist schwer nachvollziehbar für diese Menschen. Für Menschen mit Behinderungen gilt generell, dass sie viel Mut brauchen, um nach Hilfe zu fragen. Wenn jemand daheim ist, sehen andere Menschen den Bedarf nicht. Wenn zum Beispiel blinde Menschen nicht mehr allein einkaufen gehen können, weil ihnen aufgrund des empfohlenen Abstands von 1,5 Metern nicht mehr ausreichend Unterstützung angeboten werden kann, ist es besonders wichtig, dass Familie, Freunde oder Nachbarn hier helfen.

Was bedeutet das auch psychisch für behinderte Menschen, jetzt noch eingeschränkter mobil zu sein?

In der aktuellen Situation werden die Einschränkungen noch deutlicher. Wenn der öffentliche Nahverkehr eingeschränkt wird, können manche Menschen mit Behinderungen nicht einfach aufs Fahrrad oder auf ihr Auto ausweichen. Und alleine spazieren gehen ist für andere Menschen nicht möglich. Diese Einschränkungen können zu einem starken Gefühl der Einsamkeit und des Ausgeschlossenseins führen. Hilfsangebote, zum Beispiel in Form eines Sorgentelefons, um Mut zu geben, sind daher sehr sinnvoll.

Was bedeuten die Auswirkungen von Corona für die Menschen am Rand der Gesellschaft: für Arme, für Obdachlose, für Kinder aus prekären Verhältnissen?

Für viele Menschen ist diese Krise existenziell. So sind die Tafeln für viele Menschen wichtig, um ihren täglichen Bedarf an Nahrungsmitteln zu decken. Für wohnungslose Menschen gibt es weniger Plätze, um zu übernachten, das kann bei dieser Kälte lebensbedrohlich sein. Für Kinder aus schwierigen Familienverhältnissen fehlen Angebote von Jugendzentren oder Bildungsträgern. Für all diese Menschen sind unbürokratische und direkte Hilfen entscheidend.

Sind die Finanzhilfen der Regierung da genug oder müsste noch mehr getan werden?

Am Ende wird es vor allem darum gehen, ob die Finanzhilfen bei all denen ankommen, die besonders hart getroffen sind. Pflegeheime brauchen mehr Schutzausrüstung, die kostet Geld. Hier muss genauso eine Unterstützung erfolgen wie für die Ladenbesitzerin oder den Restaurantbetreiber. Es ist richtig und wichtig, dass die Bundesregierung so schnell aktiv geworden ist. Jetzt geht es vor allem darum, dass nicht die Botschaft wahrgenommen wird: Wir retten vor allem die großen Unternehmen, wir retten auch kleine Unternehmen, Selbstständige und Betreiber sozialer Dienste.

Und teilen Sie die Meinung, die zunehmenden Ausgangsbeschränkungen könnten auch zu mehr häuslicher Gewalt gegen Frauen und Kinder führen?

Häusliche Gewalt ist schon ohne eine Krise wie wir sie erleben ein großes Problem. Wenn Menschen auf engem Raum zusammenleben, wenn vielleicht psychische Belastungen durch den Verlust der Arbeit dazukommen, dann ist zu befürchten, dass die Gewalt im häuslichen Umfeld zunehmen wird. Hier braucht es unbedingt eine finanzielle Unterstützung von Frauenhäusern und Möglichkeiten der Unterstützung von Familien.

Zurück zu Ihnen, Sie haben als Biathletin vor genau zehn Jahren, im März 2010 in Vancouver Ihre letzten fünf von insgesamt zwölf paralympischen Goldmedaillen gewonnen. Sie sind dem Behindertensport noch heute sehr verbunden. Nun haben das IOC und Gastgeber Japan die Olympischen und damit auch die Paralympischen Spiele nach langem Ringen verschoben. Eine richtige Entscheidung?

Absolut, es gab keine andere Möglichkeit. Selbst wenn niemand derzeit mit Gewissheit sagen kann, wie sich die Pandemie weiterentwickelt, ob und wie die Infektionszahlen bis zum Sommer weiter steigen. Die Termine für die Olympischen und Paralympischen Spiele waren nicht einzuhalten. Man musste einen Zeitpunkt finden, der den Sportlern, den Zuschauern und auch dem Gastgeber beste Bedingungen bietet. Das war im Sommer nicht gegeben. Das hätte keinen Sinn gemacht. Man sieht doch schon jetzt, dass kein richtiges Training mehr möglich ist, dass es zeitlich eng geworden wäre, alle Qualifikationen durchzuführen. Das betrifft die olympischen Athleten genauso wie die Para-Sportler.

Wären paralympische Sportler in Tokio aufgrund von körperlichen Einschränkungen, Vorerkrankungen und notwendiger Medikamenteneinnahme gefährdeter für Infektionen gewesen als gesunde Athleten?

Auf den ein oder anderen mag das schon zutreffen, dass ein schwächeres Immunsystem auch zu einem höheren Risiko führt. Sportler, die wie ich blind sind oder im Rollstuhl sitzen, aber sonst keine körperlichen Einschränkungen haben, sehe ich da nicht mehr als alle anderen gefährdet.

Eine weitere Folge im Zuge von Corona sind derzeit die in vielen Ländern ausgesetzten Dopingkontrollen. Auch hier kritisierten viele Sportler, dass faire Bedingungen nicht mehr gegeben gewesen wären.

Mit Recht. Auch im paralympischen Sport hat die Dopingproblematik in den vergangenen Jahren zugenommen. Daher sind auch hier systematische Kontrollen für einen fairen Wettbewerb wichtig. Unabhängig von den derzeitig eingeschränkten Kontrollen ist das Thema Technikdoping im paralympischen Sport spannend. Was ist mit den Prothesen, wie sie Sprinter und Springer benutzen? Ist das noch zulässige Unterstützung oder verschafft man sich mit High-Tech-Geräten einen unerlaubten Vorteil? Auch hier muss der Weltverband IPC Klarheit schaffen, genauso wie bei der großen Zahl an Medaillengewinnern. Im Wintersport ist es schon gängige Praxis, dass nur noch in drei Klassen unterteilt wird. Sehbehindert, körperbehindert, Rollstuhlfahrer. Das reicht auch. Im Sommersport ist die Vielzahl an Startklassen nicht mehr vermittelbar.

Wären Para-Sportler nun durch eine komplette Absage der Spiele in ihrer Existenz gefährdeter gewesen als Olympia-Starter?

Das würde ich nicht pauschalisieren. Viele Para-Sportler verfolgen eine duale Karriere. So wie ich Studium und Sport kombiniert habe, ist das heute noch für viele üblich, sie arbeiten zum Beispiel Teilzeit und trainieren. Klar ist aber auch, je kleiner die Randsportart und je weniger starke Sponsoren im Rücken, desto schwieriger ist es für den Athleten. Aber das betrifft auch Sportler ohne Behinderung aus weniger populären Sportarten.

Der Weltverband IPC fiel in den vergangenen drei Jahren unter seinem neuen Präsidenten Andrew Parsons vor allem durch seinen Kuschelkurs mit dem IOC um Thomas Bach auf, etwa wenn es in der Causa Staatsdoping um den Start russischer Sportler bei den Spielen ging. Würden Sie sich da künftig mehr Abgrenzung und eigene Positionierung wünschen?

Positionierung und Abgrenzung wäre gut, aber das IPC hängt allein schon mit der Austragung der Spiele zu sehr am IOC. Viele Dinge müssen da gemeinsam entschieden werden. Viel wichtiger ist mir, dass beide Verbände ihre Haltung überdenken, wie sie wahrgenommen werden, dass sie mal wieder mehr Glaubwürdigkeit vermitteln, um die Jugend der Welt auch wirklich wieder zu inspirieren. Allein wenn man an die Klima-Demos der letzten Monate denkt, an die Millionen Jugendlicher, die weltweit auf die Straße gingen, weil sie sich um die Zukunft der Welt sorgen. Das wäre doch ein Anlass für die Verbände, Spiele nur noch dahin zu vergeben, wo nicht das meiste Geld winkt, sondern wo es um Klimaneutralität und Nachhaltigkeit geht.

Ist es ein realistischer Glaube, dass das IOC durch die Corona-Krise zur inneren Einkehr und zur Besinnung auf die wahren Werte bewegt wird? Oder ist das illusorisch?

Es ist ein Wunsch, eine Hoffnung, dass man nachdenklicher wird. Dass es um mehr Nachhaltigkeit und um Inklusion geht und auch um die psychologische Wirkung, was der Sport alles leisten kann, wenn man nach einer Krise, einer Krankheit, einem Unfall ganz unten war und sich wieder nach oben kämpft. Dass es darum geht, den Sport wieder in den Mittelpunkt zu rücken und nicht wirtschaftliche Interessen. Da haben das IOC und das IPC großen Nachholbedarf.

Abgesehen vom Sport, eine Frage an Sie als VdK-Präsidentin: Was kann die Gesellschaft aus dieser Krise lernen?

Ich höre hier gerade so viele Beispiele von Mitmenschlichkeit und Solidarität. Von Mitgliedern, die nicht aus dem Haus können und von der Studenten-WG in der Wohnung darunter gefragt werden, was sie vom Einkaufen mitbringen können. Ich hoffe, dass so ein Miteinander auch nach der Krise anhält, dass Menschen nicht mehr vereinsamen, dass wir uns besinnen, Kräfte für einen großen Zusammenhalt in der Gesellschaft zu mobilisieren. Mich berührt auch die große kreative Energie vieler Menschen, vom Miteinander-Singen auf dem Balkon bis hin zum gemeinsamen Meditieren. Es entstehen gerade sehr viele neue Verbindungsmöglichkeiten zwischen den Menschen. So schwer die Zeiten sind, das macht großen Mut für die Zukunft.

Vita:

Die 1982 in Lindau geborene Verena Bentele ist wegen einer Erbkrankheit von Geburt an blind. Mit ihren älteren Brüdern Johannes und dem ebenfalls blinden Michael wuchs sie auf einem Bio-Bauernhof in Wellmutsweiler bei Tettnang auf. Ihre Eltern Peter und Monika stärkten sie von Anfang an in ihrem Selbstvertrauen, ließen sie auf dem Dach herumtoben, Rad fahren und auf Bäume klettern. Als Dreijährige stand Verena erstmals auf Alpin-Skiern, mit zehn begann sie das Langlaufen, kurz darauf mit Biathlon. 1998 in Nagano holte sie schon den ersten Titel bei den Paralympics, bis zu ihrem Karriereende in Vancouver 2010 gewann sie insgesamt 12 Goldmedaillen.

2014 wurde sie auf Vorschlag von Arbeitsministerin Andrea Nahles zur neuen Behindertenbeauftragten der Bundesregierung bestellt, seit Mai 2018 ist Verena Bentele Präsidentin des Sozialverbandes VdK .