Überwachungspersonal
Wenn Hochschullehrer zum Überwachungspersonal mutieren
Weingarten / Lesedauer: 3 min
Die Prüfungen an den Universitäten und Hochschulen finden wegen Ansteckungsgefahr derzeit meist online statt – eine intime Situation, denn bei Zoomkonferenzen werden Hochschullehrer ungewollt zu Voyeuren. Martin Oswald, Professor für Kunstpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Weingarten, schildert seine Eindrücke aus dem aktuellen Prüfungsdurchlauf.
Da sitzen also 50 aufgeregte Studierende in ihren Jugendzimmern, in Räumen, denen sie schon entflohen waren. Im Hintergrund an die Wand gepinnte Fotos mit Erinnerungen an eine Zeit, die sie gerade hinter sich gelassen haben. Eigentlich. Denn sie sind wieder zu Hause in ihrer heimatlichen Zelle, und ich habe die Aufgabe, sie dort zu überwachen. Ich lehre an einer Hochschule. Eigentlich. Heute bin ich eine Art elektronische Fußfessel, aber mit erheblich erweiterten Rechten. Während der 90-minütigen Klausur, die meine Studenten an ihren Tischen zu Hause schreiben, muss ich sie mittels ihrer eigenen Kamera überwachen. Und man geht wie selbstverständlich davon aus, dass jede und jeder ein Notebook mit einer entsprechenden Vorrichtung besitzt und dass alle freiwillig bereit sind, diese auf sich selbst zu richten. Freiwillig? Was bleibt ihnen anderes übrig.
Und so überfällt mich, den Bewacher, eine gewisse Scham, wenn ich unerwartete Einblicke ins Privatleben von Menschen bekomme, mit denen ich bislang einzig wegen ihrer intellektuellen Leistungen in Kontakt stand. Die Situation erinnert mich an die flimmernden Monitore des Überwachungspersonals an U-Bahn-Stationen, an die gelangweilten Rezeptionisten in Hotellobbys, die Bildschirmbilder von Fluren anstarren. Immerhin überwachen sie öffentliche Räume.
Mein Auge aber reicht bis ins Private. Es ist weniger der Einblick in die Zimmer selbst, der mich mit Scham erfüllt, sondern der ungeschminkte frontale Blick auf die Gesichter im Großformat. Auf Menschen, die ganz bei sich sind, bei sich sein müssen, weil die Lösung von Prüfungsaufgaben keine gestische Inszenierung gegenüber einem fremden Betrachter erlaubt. Das zu sehen, ist das eigentlich Obszöne. Menschen, die sich beim Denken die Lippen streicheln, sich über die Backe fahren, den Zeigefinger hinter das Ohr legen, das Haar zurück streichen, sich kratzen, kauen, sich auf die Lippen beißen, memorierte Texte in stummer Mundbewegung aufrufen, sich an die Nasenspitze fassen, die Lippen mit der Zunge feucht benetzen. Menschen, deren Gesichtshaut rot anläuft, die sich bei fortschreitender Prüfungsdauer zunehmend nervöser bewegen, Blicke nach oben, nach unten, zur Seite richten. Und dazwischen immer wieder Phasen der Ruhe, der In-sich-Gekehrtheit.
Und bei manchen, die sich stark nach vorne beugen, sehe ich nur die Stirn und den Haaransatz der Kopfhaut. Eine hat sich wund gekratzt. Ich möchte es nicht sehen. Man könnte einwenden, dies alles wäre in einer realen Prüfungssituation – nebenbei: auch die hier beschriebene gilt als real – genauso zu beobachten. Doch dies stimmt so nicht. Ich sitze im Prüfungsraum keinem Prüfling frontal Kopf an Kopf direkt gegenüber, starre ihn unentwegt an und registriere 90 Minuten lang jede kleinste Zuckung. Selbst wenn es in der Onlineprüfung nicht geschieht, es genügt, dass es für den Bewacher möglich ist und die Beobachteten dies erdulden müssen.
Sie wissen zu keinem Zeitpunkt, wann sie ins Visier genommen werden und wie lange. Es ist eine Zumutung für beide: Den ungewollten Voyeur auf der einen, die aufs intimste Überwachten auf der anderen Seite. Es wundert mich, dass sich auf studentischer Seite nicht mehr Unmut regt. Es wundert mich wiederum nicht: Sie befinden sich in der schwächeren Position. Aus diesem Machtgefälle Lust zu ziehen, setzt eine spezielle Neigung voraus. Mir ist sie nicht gegeben. Mehr noch, ich empfinde große Scham ob dieser Obszönität. Es wird Zeit, den Prüfungsporno zu beenden.