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Weissenau

Tagung in Weissenau zur Erinnerungskultur

Ravensburg / Lesedauer: 3 min

Arbeitstagung der NS-Gedenkstätten aus dem Südwesten über neue Formen des historischen Gedächtnisses
Veröffentlicht:24.10.2018, 19:37

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Die Deutschen müssten eigentlich viel wissen über die Zeit des Nationalsozialismus. Bücher darüber füllen Bibliotheken, es gibt Dokumentationen in Film und Fernsehen, und nach den Jahren der Verdrängung sind in den 80er- und 90er-Jahren auch viele Gedenkorte entstanden. Und doch kann sich heute ein Politiker ans Rednerpult stellen und die zwölf Jahre der NS-Diktatur als „Vogelschiss“ der deutschen Geschichte bezeichnen. Läuft was schief in unserer Gedenkkultur? Wie kann sie eine breite Schicht der Bevölkerung auch und gerade jenseits des akademischen Milieus erreichen? Muss sich die Art und Weise des Erinnerns verändern? Muss die Vermittlung von Erinnerung angepasst werden an eine veränderte Medienwelt?

Über solche Fragen diskutieren bis Donnerstagabend Vertreterinnen und Vertreter von Initiativen, Museen, Gedenkstätten und Einrichtungen zur NS-Forschung im Zentrum für Psychiatrie (ZfP) in Weissenau. Thomas Müller, Professor und Leiter des Forschungsbereichs für Geschichte der Medizin am ZfP Südwürttemberg, hat zu dieser Arbeitstagung eingeladen. Dabei wurde zunächst deutlich, wie viele Institutionen es in der Region von der Alb bis zum Bodensee gibt, die sich dem Thema widmen. Dabei sind Schwerpunkt und Ansatz sehr unterschiedlich. Es gibt Orte wie die KZ-Gedenkstätten und Dokumentationszentren Oberer Kuhberg in Ulm oder Grafeneck, bei denen schon der Ort das Exponat ist und der Schwerpunkt selbstverständlich auf der Zeit des Nationalsozialismus liegt.

Lernort für die Gegenwart

Es gibt aber auch Orte wie das Museum für Juden und Christen in Laupheim, in denen die Jahre von 1933 bis 1945 Bestandteil einer größeren Erzählung sind. Michael Niemetz, Leiter des Laupheimer Museums, erläuterte das Konzept seines Hauses, das die Geschichte von Christen und Juden als eine Geschichte von Mehrheit und Minderheit über Jahrhunderte darstellt – vom Nebeneinander im 18., über ein Miteinander im 19., bis zum Gegeneinander im 20. Jahrhundert.

Ob Ulm, Laupheim, Grafeneck oder Zwiefalten und Bad Schussenried, wo es seit 2003 das Württembergische Psychiatriemuseum gibt, das Publikum der Gedenkstätten und Ausstellungen stammt überwiegend aus einer Generation, die nicht mal mehr über die Großeltern einen direkten Bezug zur NS-Zeit hat. Wie also kann man heute junge Menschen heranführen an das Thema?

Nicola Wenge , Leiterin des NS-Dokumentationszentrums Oberer Kuhberg, sieht das ehemalige Lager als Lernort: Das Ulmer Lager war eines der ersten KZ überhaupt. An diesem Beispiel lasse sich zeigen, wie schnell es einer Diktatur gelinge, die Opposition auszuschalten. Kommunisten waren die ersten, die im KZ auf dem Kuhberg inhaftiert wurden. Meistens nicht sehr lange, aber danach waren die meisten durch die Gewalt, die ihnen angetan wurde, gebrochene Menschen. Wenge hat die Erfahrung gemacht, dass Geschichte in Geschichten erzählt werden muss, wenn man das Publikum erreichen will. Die Opfer sollen ein Gesicht bekommen. Deswegen wird gerade eine Häftlingsdatenbank aufgebaut. Sie ist im Internet abrufbar.

Der Opfer würdevoll zu gedenken, ist nicht einfach, wenn die Akten der Täter die Hauptquellen sind. Ein Problem, mit dem sich auch Paul-Otto Schmidt-Michel auseinandersetzt. Der ehemalige Leiter des ZfP Weissenau arbeitet seit Jahren an einer Geschichte der Opfer der NS-„Euthanasie“. Um die Ermordeten nicht ein weiteres Mal zu demütigen, sollen weitere Quellen erschlossen werden. Das soll über Gedenkbücher im Netz geschehen. Für Ravensburg und den Bodenseekreis sind diese Seiten bereits freigeschaltet. Die Hoffnung ist, dass sich Angehörige melden und etwas erzählen über ihre Verwandten. Die Opfer sollen eine andere Geschichte bekommen als die, die NS-Ärzte in die Krankenakten geschrieben haben.