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Freundschaft

Starke Filme über die Freundschaft in Cannes

Cannes / Lesedauer: 4 min

Eine überwiegend weiblich besetzte Jury vergibt die Preise bei den Festspielen in Cannes
Veröffentlicht:18.05.2018, 20:31

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Am Samstagabend schlägt die Stunde der Wahrheit. Dann werden wir wissen, was man einem weiblichen Blick auf das Kino versteht. Die spannende Frage ist nämlich, wen die mehrheitlich mit Frauen besetzte Jury der Filmfestspiele in Cannes – Kristin Stewart , Lea Seydoux, und vor allem Cate Blanchett – als besten Film prämiert. 21 Filmbeiträge stehen im Wettbewerb zur Wahl.

Könnte der weibliche Blick aufs Kinogeschehen gar bedeuten, dass endlich wieder eine Frau die Goldene Palme erhält, 28 Jahre nach Jane Campion? In dem Fall wäre Alice Rohrwacher favorisiert, die erst 36-jährige Italienerin, deren Film „Lazzaro felice“ vom Glück in einer Wahlverwandtschafts-WG erzählt. Die goldene Palme verdient hätte auch der Koreaner Lee Chang-dong, ein bekannter Autorenfilmer. In seinem Wettbewerbsbeitrag „Burning“ erzählt er die Geschichte eines jungen Mannes (Yoo Ah-in), der mit absoluter Sicherheit weiß, dass ein gleichaltriger Bekannter (der ehemalige „The Walking Dead“-Star Steven Yeun) ein Frauenserienmörder ist. Da er dies aber nie und nimmer beweisen kann, nimmt er das Gesetz in die eigene Hand, tötet den Massenmörder und rächt nebenbei den Mord an seiner Freundin. Ein herausragender Film, wahrscheinlich aber zu sperrig, zu beiläufig für eine Auszeichnung. Beide Filme verbindet, dass sie vom Turbokapitalismus der Gegenwart erzählen und von dessen Folgen in den jeweiligen Ländern.

Darum geht es auch bei „The Shoplifters“ vom Japaner Hirokazu Kore-eda : Gestrandete der Gesellschaft, die dem hohen sozialen Druck der japanischen Gesellschaft nicht genügen, bilden ein Wahlverwandtschaft-Familie: Zwei junge Frauen, verwahrloste Kinder, die vor ihren prügelnden Eltern fliehen, ein Kleinkrimineller und eine alte Frau, die nicht alleine sterben will. Kore-eda inszeniert im Einzelnen großartig, besonders die Kinder, und formt im Ganzen das Bild einer versagenden Gesellschaft. Als Zuschauer ahnt man, welches Unheil Normierungszwang und technokratische Institutionen anrichten.

„Leto“ als Favorit gehandelt

Andere Wettbewerbsbeiträge erzählen Geschichten aus der Vergangenheit. Der wohl beste unter ihnen stammt vom Russen Kirill Serebrenikov, der bereits in Stuttgart und Hamburg Opern inszenierte, und als Putin-Gegner derzeit unter Hausarrest gestellt ist. Sein Film „Leto“ über den jugendlichen Aufbruch im Leningrad der frühen 1980er-Jahre, ist ganz großes Kino und ist einer der Favoriten in den Besucher-Umfragen über die besten Filme.

Daneben seien der Chinese Jia Zhang-ke und der Franzose Stephane Brizé erwähnt: Deren Film „En Guerre“ erzählt nüchtern und halbdokumentarisch von einer Handvoll Gewerkschaftsführer, die einen Streik von über 1100 Fabrikarbeitern organisieren. Der Titel bedeutet übersetzt „Im Krieg“, aber es schwingt darin auch das englische Wort „Anger“ mit, also Wut.

Das gibt die Richtung vor: Das Intensitätslevel in diesem Film liegt permanent bei 120 Prozent. Es wird geschrien, geprügelt und geflucht. Charismatisches wie moralisches Zentrum ist dabei der von Vincent Lindon verkörperte kommunistische Arbeiterführer Eric. Ihn als Einzigen lernt man näher kennen. Man sieht die Arbeiter permanent beim Demonstrieren und Verhandeln, Privates und Psychologisches fehlt. Arbeitskampf ist ein mühevoller, ein quälender Prozess, und in diesem Fall auch für den Zuschauer quälend. Denn als der Streik nach Monaten scheitert, greift Eric zum drastischsten aller möglichen Mittel: Er zündet sich selbst an.

Mit 20 Minuten anhaltendem Applaus belohnte das Premierenpublikum diesen autoaggressiven Schlussakkord in einem inhaltlich deprimierenden, formal sehr einseitigen Film. Doch er scheint zumindest in Frankreich den Nerv der Zeit zu treffen, und gilt schon deshalb zum erweiterten Kreis der Palmen-Favoriten.

Das inhaltliche Leitmotiv vieler Filme war in diesem Jahr die Freundschaft: Man sah viele Menschen, die sich großzügig und human verhalten. Auffallend gut war die Musikauswahl vieler Filme.

Ein herausragender deutscher Film lief in der Sektion „Un Certain Regard“: Ulrich Köhlers „In my room“. Im Mittelpunkt dieses virtuosen und wohl überraschendsten Films im diesjährigen Cannes-Jahrgang steht Armin (Hans Löw), ein Taugenichts. Der fährt zu seiner Familie in die Provinz, weil seine Großmutter im Sterben liegt. Als er am nächsten Morgen aufwacht, sind alle anderen Menschen verschwunden.

Nun beginnt eine Robinsonade in einem postapokalyptischen Deutschland. Essen und Benzin sind genug da, für Strom sorgt der Generator. Was also tun? Zum Meer fahren? Oder im Louvre mal in aller Ruhe die Bilder angucken? Köhler zeigt: Allein sein kann für eine Weile gut sein, aber dann fehlen die Mitmenschen. Glücklicherweise trifft Armin auf Kirsi (Elena Radonicich), eine Frau, die auch noch gut aussieht und praktische Fähigkeiten hat. Köhler stellt in seiner wunderbar philosophischen Parabel die Frage: Wird man auch nach dem Weltuntergang wieder eine Kleinfamilie gründen und die Idylle der Mühle am rauschenden Bach genießen?

Doch für Kirsi sind Freiheit und Aufbruch attraktiver. Am Ende fährt sie mit einem Turbolaster in den Sonnenuntergang und erinnert an Charlize Therons „Furiosa“ im letzten „Mad Max“. Er dagegen behält Gewehr und Pferd, damit aber auch die Symbole vergangener Männlichkeit.