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„Man ist eine Ameise in einem riesigen Haufen“

Ravensburg / Lesedauer: 9 min

Helge Schneider versammelt als „Pretty Joe“ alte Weggefährten um sich für seine vorerst letzte Tournee
Veröffentlicht:01.03.2014, 16:45

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Helge Schneider ist bekannt für seine exzentrischen Auftritte und unberechenbaren Interviews. Soeben hat er verkündet, seine diesjährige Tournee werde die vorerst letzte sein. Der Musikclown nennt sich neuerdings „Pretty Joe“ und schart Dorfschönheiten in Gestalt alter Weggefährten wie Peter Thoms um sich. Schneider selber freut sich, dass er dank dieser Band endlich wieder tanzen, Quatsch machen, singen und Instrumente spielen kann. Olaf Neumann leistete der „singenden Herrentorte“ beim Frühstück in seiner Heimatstadt Mülheim an der Ruhr Gesellschaft.

Herr Schneider, für diese Tournee nennen Sie sich „Pretty Joe“. Zeigen Sie sich diesmal von einer ganz anderen Seite?

Ne, das kann ich doch gar nicht. Ich bin immer noch derselbe Helge. Aber ich lasse mir gerne was einfallen. Gestern stieg ich aus der Wanne, hatte meinen Bademantel angezogen und dachte: „Wie wäre es, wenn die neue Show mit Musik von Carl Orff anfängt?“ Die Melodie, mit der Henry Maske immer aufgetreten ist.

Zu den Dorfschönheiten gehören zwei Drittel des legendären Spardosen-Terzetts, das bereits mit Wiglaf Droste, Ina Müller und Thomas Quasthoff gearbeitet hat. Was zeichnet Ihre neue Band aus?

Ich kenne alle diese Musiker schon ganz lange, aber mit ein paar von ihnen spiele ich erst seit Kurzem zusammen. Das macht irre Spaß. Wichtig ist, dass wir gemeinsam üben können und keiner so weit weg wohnt. Ich habe jetzt eine Band zusammengestellt, bei der ich sage: Nach der Tour kann ich endlich mal eine Pause machen. Und zwar mindestens zwei Jahre, wenn alles gut geht, und ich mich nicht breit schlagen lasse, zwischendurch mal irgendwo auf einem Jazzfestival zu spielen. Diese Band klingt so organisch, danach muss mal eine Zeit lang Schluss sein.

Gönnen Sie sich eine Auszeit, weil Sie glauben, diese Band nicht mehr übertreffen zu können?

Genau. Die Dorfschönheiten sind meine beste Band bis jetzt. Also Leute, die einfach gerne Musik machen. Und zwar nicht nur Jazz, sondern auch andere Sachen. Sie alle sind bereit, ein Klangerlebnis formulieren zu wollen. Wir spielen nicht nur die aktuelle Platte, ich habe schon immer das gemacht, was mir gerade einfiel. So soll es auch weitergehen.

Zwei Jahre Abstinenz von der Bühne sind eine lange Zeit.

Zwei Jahre sind schnell vorbei. Ich bin jetzt 30 Jahre auf Tournee. Ich bin immer weg. Ich muss jetzt auch mal zuhause sein.

Was bedeutet es Ihnen, dass Ihr alter Weggefährte Peter Thoms bei dieser Tour wieder dabei ist?

Peter ist ein ganz eigensinniger Typ. Wenn man mit einem wie ihm spielt, braucht man wirklich gar nicht mehr über Musik zu reden. Man macht sie einfach. Ansonsten sind diese Konzertreisen bessere Sightseeing-Tours. Man guckt sich die Landschaft an und verarbeitet das vielleicht auch abends im Konzert.

Welches Konzert haben Sie zuletzt besucht?

Ich glaube, es war Sonny Rollins in der Tonhalle in Düsseldorf. Das ist schon länger her. Ansonsten habe ich mir Straßenmusik angehört. In München waren kürzlich ein paar gute Leute auf der Straße. Einer spielte Beethoven auf dem Akkordeon.

Haben Sie selbst Straßenmusik gemacht?

Ich hab’s zumindest versucht. Zum Beispiel in den frühen 1980ern mit Peter Thoms. Unsere Besetzung war Saxofon und Trommel. Wir sind nach Köln gefahren, um dort in der Fußgängerzone zu spielen. Sofort kam die Polizei. Die hat uns einen Platz am Dom zugewiesen, wo der Wind so um die Ecke fegt. Wir haben dann in einer halben Stunde eine Mark eingenommen. Die wurde geteilt und anschließend sind wir nach Hause gefahren. Da war Feierabend mit der Straßenmusik.

Im Video „To Be A Man“ zeigen Sie sich fast nackt. Hat diese Nacktheit eine Botschaft? So wie bei den Femen-Aktivistinnen, die barbusig protestieren?

Genau das sollte es sein: Protest! Wenn ich das mache, kräht allerdings kein Hahn danach. Wenn Justin Bieber es tut, dann ist das weltweit in allen Zeitungen.

Geht es Ihnen darum, eigene Grenzen zu sprengen?

Wenn du das Video ansprichst, dann war das keine Grenze, die ich sprengen wollte. Es war das Spiel mit dem Urwüchsigen, den Urgewalten, der Wüste. Aber eigene Grenzen? Neulich bin ich im Flugzeug geflogen, es war gerade ein unglaublicher Sturm. Beim Landen ist die Maschine hoch und runter und mit der Schnauze fast ins Gras. Viele Passagiere haben geschrien, weil sie wirklich Angst hatten. Aber ich nicht. Vielleicht ist das eine Grenze, die ich überschritten habe.

Litten Sie bis dahin unter Flugangst?

Angst hatte ich noch nie, ich bin aber sehr vorsichtig. Das ist ein Unterschied. Ich bin jahrzehntelang nicht mit dem Flugzeug geflogen, aber nicht aus Angst, sondern aus Vorsicht. Aber fliegen tue ich gerne, vor allem, seit ich in Spanien ein Häuschen habe. Die Gegend ist ein bisschen wie Mülheim, das Haus liegt in der Wüste. Hier ist Betonwüste und da ist richtige Wüste. In Spanien arbeite ich auch viel.

Können Sie gut abschalten?

Ich mag es, tagelang an einem Buch zu lesen. Das werde ich in der Pause dann auch machen. Ich lese gerne Tatsachenberichte, aber auch Krimis. Das erinnert mich oft an die Krimis im Fernsehen.

Apropos Film: Sind Sie rückblickend zufrieden mit Ihrem letzten Werk?

Vom Filmgeschäft bin ich maßlos enttäuscht. Film macht natürlich auch Spaß, aber eigentlich bin ich ein Bühnenkünstler. Da bin ich mein eigener Herr.

Sie werden in diesem Jahr 59. Wie lautet Ihr aktuelles Lebensmotto?

Weiter so! Mein Lebensmotto ist, immer dazuzulernen. Auch außerhalb meiner Arbeit Leute zu beobachten. Auch im größeren Stil, also politisch. Sich für die Rolle der Politik, der Medien und des Internets in unserer Gesellschaft zu interessieren. Viele Dinge stürzen auf einen ein, und man kommt nicht umhin, da kritisch drüber nachzudenken.

Was beschäftigt Sie gegenwärtig?

Ich beschäftige mich aktuell mit der großen Koalition und der Geschichte, wegen der der ehemalige Innenminister Friedrich zurückgetreten ist. Bei dieser komischen Geschichte fragt man sich: Ist das wahr? Wo kommt das her? Wem nützt das? Was soll das? Stimmt das? Besonders die letzte Frage stelle ich mir immer öfter, egal was passiert auf der Welt. Es wird mir auch bewusst, dass man eine ganz kleine Nummer ist, eine Ameise in dem riesigen Ameisenhaufen von Menschen. Da kann man natürlich umso glücklicher sein, wenn man so einen Beruf hat wie ich, wo man mit dem, was man gerne macht, auch noch Geld verdient und andere Menschen damit in irgendeiner Weise berührt. Und sogar glücklich macht. Das sollte aber niemals die Intention sein.

Sondern?

Das ist nur ein Effekt, der mich darüber nachdenken lässt, wer ich überhaupt bin.

Führen Sie heute das Leben, das Sie sich immer gewünscht haben?

Ich finde, Leben ist Leben. Ich kann mich nicht beklagen. Ich würde nie sagen, dass ich etwas Bestimmtes lieber anders gemacht hätte.

Wünschen Sie sich manchmal, weniger populär zu sein?

Nein. Das bin ich ja, wenn ich in Spanien bin. Dort kennt mich keiner. Und trotzdem komme ich dort gut klar und werde akzeptiert.

Ihr Gitarrist Sandro Giampietro ist Frontmann der Melodic-Metal-Band Starchild. Auf deren Debütalbum sind Sie als Gast-Organist zu hören. Was kann ein Jazzer dem Heavy-Metal abgewinnen?

Der Sandro kam zu mir nach Hause und ich habe für ihn eine Tonspur auf meiner Orgel eingespielt. Seine Musik spricht mich irgendwie an, aber noch mehr spricht mich AC/DC an. Von denen finde ich alles kolossal: Die Musik, den Rhythmus, die Texte, die Soli, den Sänger. Ich habe die Band einmal in Hamburg im Stadtpark live erlebt.

Warum haben Sie dann 1999 Ihre Tournee mit der Rockband The Firefuckers abgebrochen?

Das war nur ein mühseliger Abklatsch von AC/DC. Das ging leider nicht. Der Sound auf der Bühne gefiel mir nicht, er war einfach zu glatt.

Was fehlt der Popmusik von heute?

Humor. Sie könnte sich ein bisschen mehr selbst auf die Schippe nehmen. Das ist mir alles zu verkrampft. Seitdem Sade damals bei diesem Gassenhauer die zwei Akkorde in Moll gemacht hatte, habe ich das Gefühl, dass die Stilistik in der Popmusik gleich geblieben ist. Das ist schon fast Muzak, also Gebrauchsmusik für U-Bahn-Schächte. Mir fehlen Leute wie The Who, die wirklich was zu sagen haben und das durch ihre Musik auch ausdrücken. Von mir aus auch die Beatles oder einen Gitarristen wie Rory Gallagher. Heute dreht es sich nur noch ums Aussehen. Dann gibt es einen kleinen Text und ein bisschen Musik. Das ist alles so unselbstständig. Eine neue Janis Joplin sehe ich gegenwärtig nicht.

Informationen: Helge Schneider wurde 1955 in Mülheim an der Ruhr geboren und erklärte bereits als Kind: „Ich will auf der Bühne stehen, Clown sein und Musik machen.“ Sein musikalisches Talent stellte er früh unter Beweis. Mit fünf Jahren begann er, Klavier zu spielen, mit zwölf wandte er sich dem Cello zu. Ende der 1990er-Jahre begann Schneider, mit einem Soloprogramm auf Tournee zu gehen, dank seiner Musikalität und seines Improvisationstalents mit großem Erfolg. Mit dem Lied „Katzeklo“ konnte sich der Jazzmusiker und Sänger 1992 in den deutschen Charts platzieren. Mittlerweile gilt Schneider als Multitalent – macht Musik, dreht Filme, malt, schreibt Bücher, Theaterstücke und Musicals. Er hat sechs Kinder von vier Frauen. Helge Schneider ist in den kommenden Wochen auch in unserer Region unterwegs: 4. und 5. 3. in der Stuttgarter Liederhalle, 7.3. in der Ravensburger Oberschwabenhalle, 2.4. in der Münchner Philharmonie, 5.4. in den Ulmer Donauhallen. Karten dafür gibt es bei Südfinder Ticket, Tel. 0751 / 29 555 777 und im Internet unter www.suedfinder.de/ticket