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Interview mit dem Literaturkritiker Denis Scheck

Ravensburg / Lesedauer: 4 min

Literaturkritiker Denis Scheck über seinen Kanon der 100 wichtigsten Bücher
Veröffentlicht:12.10.2019, 07:00

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In seiner Sendung „Druckfrisch“ im Ersten setzt sich Denis Scheck mit neuen Büchern auseinander – und spart dabei weder mit Lob noch mit Tadel. Jetzt legt der 54-jährige Literaturkritiker seine ganz persönliche Bestenliste vor: In dem 480 Seiten starken Buch „Schecks Kanon. Die 100 wichtigsten Werke der Weltliteratur“, das am 14. Oktober im Piper-Verlag erscheint, erklärt Scheck, was man seiner Meinung nach gelesen haben muss und warum – von Ovids „Metamorphosen“ über Franz Kafkas Tagebücher bis zu den „Tim und Struppi“-Comics von Hergé. Martin Weber hat mit ihm gesprochen.

Was waren Ihre Auswahlkriterien für die 100 wichtigsten Werke der Weltliteratur?

Mein Goldstandard ist: Vermag ein Buch meinen Blick auf die Welt dauerhaft zu verändern? Nehme ich nach der Lektüre etwas anders wahr als vorher? Franz Kafka und Samuel Beckett gelingt das zum Beispiel ganz mühelos.

Warum haben Sie auf einige der üblichen Kandidaten wie Benn, Ibsen oder Christa Wolf verzichtet?

Weil Christa Wolf eine bestenfalls zweitklassige Autorin war und in einem Kanon der hundert Meisterwerke der Weltliteratur nichts zu suchen hat. Sie hat genau wie Heinrich Böll oder Siegfried Lenz ihre Wirkung in ihrer Gegenwart entfaltet, ein langes Nachleben sehe ich für alle drei nicht. Anders liegt die Sache bei Ibsen und Benn. Beide waren im erweiterten Favoritenkreis für meinen Kanon, mussten aber letzten Ende zugunsten von Autoren wie Lu Xun, Ngugi wa Thiong’o oder Sei Shonagon weichen, weil ich einen weniger eurozentristischen Blick auf den Kanon wagen wollte.

Haben Sie alle 100 der von Ihnen empfohlenen Bücher für diesen Kanon noch einmal gelesen, darunter auch so sperrige Werke wie „Zettels Traum“ von Arno Schmidt?

Die zwei Jahre, die ich an diesem Buch arbeiten durfte, zählen zu den glücklichsten in meinem Leserleben. Und Arno Schmidts kalauerträchtigen Großroman habe ich mir seit meinem ersten Lektüredurchgang mit 15 schon mehrfach wieder vorgenommen. Mit diesen Werken verhält es sich wie mit Tafelsilber: Sie glänzen umso stärker, je mehr sie in Benutzung sind.

Sie stellen Agatha Christie in eine Reihe mit William Shakespeare und Jules Verne mit Thomas Mann – ist das überhaupt zulässig?

Gegenfrage: Wer sollte es mir verbieten? J.R.R. Tolkien, der Autor von „Der Herr der Ringe“, sagte mal, die einzigen, die etwas gegen Eskapismus haben, sind die Gefängniswärter. In Deutschland wimmelt es immer noch von solch literarischen Gefängniswärtern, getarnt als Lehrer, Professoren, Kritiker. Shakespeares Globe Theatre musste sich im London seiner Zeit gegen populäre Amüsierbetriebe wie Tierhatz-Arenen und Bordelle behaupten. Steigen wir also vom hehren Marmorsockel und stürzen uns ins bunte Leben. Da gehört Literatur hin.

Warum haben Sie auch eher sperrige Texte wie Wolfram von Eschenbachs „Parzival“ aufgenommen? Das liest heutzutage doch keiner mehr.

Ich bedaure jeden, der sich die beträchtlichen Freuden des „Parzival“ entgehen lässt. Eschenbach heute zu lesen, ist nicht nur ein ästhetisches Vergnügen, sondern auch von enormer politischer Relevanz – denken Sie nur, wie entspannt er von Parzivals schwarzem Halbbruder Feirefiz erzählt.

Richtet sich Ihr Kanon nur an Bildungsbeflissene oder auch an die breite Masse der Leser?

An alle, die wach und neugierig bleiben möchten. Ich bin kein Lordsiegelbewahrer literarischen Geheimwissens, biedere mich als Kritiker aber auch nicht an. Auf die Auszeichnung als Mitarbeiter des Monats im Literaturbetrieb lege ich keinen Wert.

Warum lesen Erhebungen zufolge immer weniger Leute Romane?

Weil das Schöne schwindet und der Scheiß bleibt. Im Ernst: Was Statistiken angeht, liegen mir da andere Zahlen vor. In absoluten Zahlen gibt es heute enorm viel mehr Leserinnen und Leser als in meinem Geburtsjahr 1964. Nicht zu lesen ist genauso unappetitlich wie sich nicht die Zähne zu putzen. Ich käme nicht im Traum auf die Idee, mit einem Menschen, der nicht liest, ins Bett zu gehen. Wenn wir es alle so halten, ist das Problem bald gelöst.

Was verpassen die Nichtleser denn?

Das Leben.

Warum lesen mehr Frauen als Männer?

Weil Frauen klüger sind.