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Die bleierne Zeit – Ein Hölderlin-Zitat wird zum Inbegriff für das Jahrzehnt des Terrorismus

Kultur / Lesedauer: 3 min

Die bleierne Zeit – Ein Hölderlin-Zitat wird zum Inbegriff für das Jahrzehnt des Terrorismus
Veröffentlicht:29.12.2019, 19:03

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„Die bleierne Zeit“: Hölderlins Begriff hat Karriere gemacht. Vor allem in Italien: Hier sind die „Anni di piombo“ fest mit den Jahren des Terrorismus verbunden. Auch in Frankreich spricht man für die späten Sechziger und die Siebziger von den „Années de plomb“, ja man verwendet den Begriff global für Zeiten von Willkür, Terror und Gewalt. Dabei hat man das Blei aus den Pistolen im Sinn.

Die Regisseurin Margarethe von Trotta hat „Die bleierne Zeit“ zum Filmtitel gemacht. Ihr Film, der beim schwäbischen Pfarrhaus einsetzt und führt über die Biografien der Schwestern Christiane und Gudrun Ensslin zur Roten-Armee-Fraktion und deren Ende in Stammheim führt, wurde 1981 bei den Filmfestspielen in Venedig uraufgeführt. In Italien erkannte man die Parallele zu den Roten Brigaden. Aber mit der bleiernen Zeit hatte die Regisseurin nicht die Revolte gemeint, sondern deren Grundierung: die Nachkriegsära in Deutschland und das Beschweigen des Nationalsozialismus.

Bei Hölderlin steht der Begriff in einem anderem Zusammenhang. Er taucht im Gedicht „Der Gang aufs Land“ auf, das die Themen Freundschaft und Gemeinschaft umkreist und dessen Beginn mit jener Aufforderung „Komm! Ins Offene, Freund!“ immer wieder zitiert wird. So jetzt auch als Titel der neuen Hölderlin-Biografie von Rüdiger Safranski. Das Gedicht ist um 1800 entstanden, als Hölderlin in Stuttgart Christian Landauer besuchte, einen republikanisch gesinnten Tuchhändler. Es beschreibt den Weg aus der Stadt zum Neckar hinaus, es ist trüb, die Sonne noch verdeckt „und fast will mir es scheinen, es sei, als in der bleiernen Zeit“.

Bleierne Zeit, dürftige Zeit: das sind bei Hölderlin Formeln für ein unerfülltes Leben, das er in einen mythologischen Rahmen stellt. Die Antike, auf die er sich bezieht, kannte eine Abfolge von Zeitaltern. Sie beginnt mit dem goldenen Zeitalter, danach geht es abwärts mit der Welt, der Zeit und mit dem Metall.

Karl-Heinz Ott hat der bleiernen Zeit ein Kapitel in seinem Hölderlin-Buch gewidmet. Er führt uns in eine Tübinger Pizzeria und in die Mentalität der Achtziger. Vier Bekannte sitzen um einen Tisch, „abgetaucht in wütende Trauer, die Lippen verengt. Sie schauen drein, als sei jemand gestorben, ja schlimmer, als müsse man jemanden dafür bestrafen, am besten die halbe Welt. Man wagt kaum zu fragen, was passiert ist. Es stellt sich heraus, dass sie aus dem Kino kommen. Sie haben Margarethe von Trottas ‚Die bleierne Zeit‘ gesehen. Am Tisch sind alle überzeugt, dass Baader, Ensslin und Raspe in Stammheim ermordet worden sind, vom deutschen Staat. Man lebt in bleierner Zeit.“ (man)