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Deutscher Wald: Weit mehr als nur ein Ökosystem

Ravensburg / Lesedauer: 6 min

Idealisiert und dämonisiert – Der Wald ist für die Deutschen weit mehr als ein Ökosystem
Veröffentlicht:25.10.2017, 09:35

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Die Liebe der Deutschen zum Wald ist schon eine merkwürdige Angelegenheit. Vielleicht sollte man eher von einer recht schüchternen Schwärmerei reden oder einer Art Fernbeziehung. So manchem reicht schon eine einzelne Tanne für das Walderlebnis des Jahres – immer zu Weihnachten. Dann schleppt selbst der ansonsten naturferne Stadtmensch ein Bäumchen in die Mietwohnung und freut sich an dem Duft von Harz und Holz und den Lichtlein, die allüberall auf den Spitzen sitzen.

Ohne es so recht zu merken, feiern wir dann nicht nur ein christliches Hochfest, sondern nebenbei auch ein wenig unser sentimentales, typisch deutsches Verhältnis zum Wald. Denn von hier aus hat sich die Weihnachtsbaumtradition im 19. Jahrhundert in alle Welt verbreitet. In E.T.A Hoffmanns Märchen „Vom Nußknacker und Mäusekönig“ von 1816 wird erstmals von einem geschmückten Tannenbaum erzählt. Und das ist kein Zufall. Denn der Dichter ist ein Vertreter der Romantik, jener literarischen Epoche, die den Wald fest im Bewusstsein der Deutschen verankert hat. Dichter und Texte aus dieser Zeit haben womöglich nachhaltiger bestimmt, was wir noch heute über den Wald denken und für ihn empfinden, als Forstwirte und Biologiebücher – oder gar die eigene Erfahrung.

Idealisierte Ursprünglichkeit

Die Romantiker waren es, die den Wald zum Sehnsuchtsort geadelt und als Erste begonnen haben, die Idylle vor der Realität zu retten. Ein Versuch, der sich zum Langzeitexperiment entwickeln sollte und in gewissem Sinne auch in den Bestsellern von Peter Wohlleben eine neue Erscheinungsform gefunden hat. In Büchern wie „Das geheime Leben der Bäume“ findet der Leser eine faszinierende Natürlichkeit beschrieben, die den Wald auch als eine Art besseres, sozialeres Gesellschaftssystem erscheinen lässt.

Der Wald als idealer, friedlicher Rückzugsort findet sich schon bei Joseph von Eichendorff, dem Seelendichter der Deutschen. So heißt es etwa in „Abschied“ von 1810:

„Da draußen stets betrogen

saust die geschäftge Welt,

schlag noch einmal die Bogen

um mich, du grünes Zelt!“

Matthias Claudius schließlich hat mit seinem „Abendlied“ nicht nur die Herzen ganzer Generationen angerührt, sondern auch ein Bild erschaffen, das sich als romantische Ikone ins kollektive Gedächtnis eingebrannt hat:

„Der Wald steht schwarz

und schweiget,

Und aus den Wiesen steiget

Der weiße Nebel wunderbar.“

Selbst dem Nüchternsten erschließt sich: Hier geht es weder um die Beschreibung eines Ökosystems, noch um einen Wirtschaftsraum oder ein Naherholungsgebiet. Der literarische Bogen ließe sich schlagen bis zu Bert Brecht und Erich Kästner, der Naturschwärmerei ansonsten unverdächtige Vertreter des 20. Jahrhunderts. In einem Kästner-Gedicht von 1936 heißt es etwa:

„Die Wälder schweigen.

Doch sie sind nicht stumm.

Und wer auch kommen mag,

sie trösten jeden.“

Ein Blick in die Welt vor gut 200 Jahren zeigt schnell, woher die Sehnsucht nach dem guten, alten Wald rührt, der zur damaligen Zeit weder gut noch alt war, sondern in weiten Teilen abgeholzt. Der Bedarf an Bau- und Brennholz war enorm, die Städte wuchsen, die Industrialisierung nahm langsam Fahrt auf. Es war einiges in Bewegung geraten.

Die Aufklärung, die gerade durch die gebildeteren, deutschen Köpfe gerauscht war und Kants vernunftgeleiteten Menschen in den Mittelpunkt gestellt hatte, löste nicht nur die Euphorie der Selbstbestimmung, sondern auch Ängste aus. Was lag näher, als sich zurückzuträumen in eine einfache Naturidylle? Die Rückbesinnung als Flucht vor der als unnatürlich empfundenen und – ja, schon damals – technisierten Welt der Städte. Der Wald erschien mehr und mehr als ferne, aber heile Seelenlandschaft. Vor allem dem Bürgertum, also jenen in der Gesellschaft, die nicht mehr real am, im oder vom Wald leben mussten wie die Bauern und Waldarbeiter, Köhler und Glasmacher, die seit Jahrhunderten ein karges und ganz und gar unromantisches Leben führten. So wie es beispielsweise auch in Wilhelm Hauffs berühmtem Schwarzwald-Märchen „Das kalte Herz“ anklingt.

Nationale Identität

Aber nicht nur die Sehnsucht nach Ruhe und Erbauung, auch die Suche nach einer nationalen Identität hat die Deutschen zu Beginn des 19. Jahrhundert ebenfalls recht schnell in den Wald geführt. Heinrich von Kleist schrieb 1809 das Drama „Die Hermannsschlacht“, in dem der legendäre Sieg der Germanen unter Hermann , dem Cherusker, im Teutoburger Wald gefeiert wird. Die Varusschlacht im Jahr 9 n. Chr., die als Triumph über die römischen Besatzer und ihre Kultur galt, wurde von den Romantikern dankbar aufgenommen. Der Sieg aus ferner Vergangenheit sollte nun einen deutschen Nationalkult begründen, in dem auch der Wald seinen gerechten Anteil hatte. Denn die germanischen Horden hatten den düsteren Forst auf ihrer Seite, wie Viktoria Urmersbach in ihrem Büchlein „Im Wald, da sind die Räuber“ schreibt. Der Geschichtsschreiber Cassius Dio Cocceianus notierte etwa:

„ ... und die Bäume standen so dicht und waren so übergroß (...) Der Boden aber, schlüpfrig geworden um die Wurzeln und Baumstümpfe, machte sie unsicher beim Gehen, und die Kronen der Bäume, abgebrochen und herabgestürzt, brachten sie in Verwirrung.“

Klarer Heimvorteil.

Nur zu gerne haben die Deutschen sich fürderhin als Waldkinder gesehen und die Stärke der deutschen Eiche sowie auch das Natürliche und Unbeugsame des Waldes ihrem eigenen Wesen zugeschrieben. Eine mythische Überhöhung, die auch die Nationalsozialisten bereitwillig aufgriffen und für ihre Zwecke instrumentalisierten – der ewige Wald als politisches Symbol für das 1000-jährige Reich.

Die Vereinnahmung durch die Nazis hat dem innigen Verhältnis der Deutschen zu ihrem Wald allerdings keinen Abbruch getan. In der Nachkriegszeit fand er sich schon wieder als heitere und trostspendende Naturkulisse in Heimatfilmen wie „Der Förster vom Silberwald“ oder „Und ewig singen die Wälder“. Passend dazu möblierten stilisierte Waldelemente wie der Röhrende Hirsch in Öl, die Schrankwand Eiche rustikal und womöglich noch eine Kuckucksuhr die deutsche Wohnzimmer-Gemütlichkeit. „Der deutsche Wald – das ist nicht dasselbe wie die Wälder in Deutschland. Es handelt sich nicht um eine geographische Größe, sondern um eine Gefühlsqualität (...)“, konstatiert der Volkskundler Hermann Bausinger im Jahr 2000 in „Typisch deutsch“.

Das Waldsterben

Im Nachhinein wundert es da wenig, dass den Deutschen der Schreck gehörig in die Glieder fuhr, als in den 1970er-Jahren die Schlagersängerin Alexandra raunte: „Mein Freund, der Baum, ist tot“ und Anfang der 1980er-Jahre ernsthaft zu befürchten stand, dass der Wald stirbt, dahingerafft von saurem Regen. Apokalyptische Szenarien wurden publiziert und diskutiert.

Der Aufruhr sorgte für eine nachhaltige Veränderung – auch in der politischen Landschaft, in der die Grünen schnell in die Rolle der Baumretter hineinwuchsen. Derweil blickten Nachbarländer wie etwa Frankreich irritiert auf die tief erschütterten Deutschen und „Le Waldsterben“, das man eher für ein nationales Phänomen hielt und gar nicht übersetzte. Spätestens seit dieser Zeit gilt in Deutschland für die Existenz von Bäumen in Stadt und Land der alte Spruch: Es geht nicht um Leben und Tod, es geht um mehr.

Und was tut der Wald selbst ob all der Ängste und Liebe, die ihm gewidmet sind? Er steht schwarz und schweiget.