Kinokunst
Der Weltgeist der Kinokunst: Jean-Luc Godard zum 90.
Kultur / Lesedauer: 5 min
Nach wie vor dreht der 1930 in Paris geborene Jean Luc Godard Kinofilme, und zwar sehr wache zeitgenössische Werke. Erst 2018 feierte sein vorerst letztes Werk „Le Livre d'Image“ (Das Buch des Bildes) bei den Filmfestspielen von Cannes Premiere. Godard hat alles gemacht, in 60 Jahren seit seinem atemberaubenden Debüt mit „Außer Atem“ (1960). An diesem Donnerstag wird Jean Luc Godard 90 Jahre alt – eine Würdigung dieses ewig jung gebliebenen Kinorevolutionärs.
Vielleicht doch „Le Mepris“ (Die Verachtung; 1963), der Film, der in der Villa von Curzio Malaparte auf Capri gedreht wurde, in dem der alte Fritz Lang seinen letzten Auftritt im Kino hat, in dem Brigitte Bardot und Michel Piccoli die Hauptrollen spielen, einen Drehbuchautor und eine Schauspielerin – vielleicht ist dies Godards allerschönster Film: diese bittersüße, wunderschöne, traurige, melancholische Moravia-Verfilmung in sonnendurchfluteten, farbenstrahlenden Bildern, die bei Jean-Luc Godard zu einer Selbstreflexion des Filmemachens wird, wie fast alle seine Filme, und dabei auch zum Manifest purer Schönheit.
Oder doch „Die Außenseiterbande“ (1964), mit Godards damaliger Frau Anna Karina, nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal in seinen Filmen zwischen zwei Männern, Sami Frey und Claude Brasseur, ein mit Kino-Referenzen gespicktes, verspieltes Porträt urbaner Jugend. Oder eines seiner letzten Werke, jene ungemein gedankenreichen und doch erstaunlich leichten, verständlichen, musikalisch inszenierten Essayfilme wie „Notre Musique“ (2004), „Film Socialisme“ (2010) und „Adieu Au Langage“ (2014).
Um Schönheit geht es immer bei Godard, um Sinnlichkeit, um filmische Bewegung und Assoziationskunst, nie – entgegen allen möglichen Vorurteilen – um den reinen Intellekt oder um Besserwisserei: Godard ist vor allem ein Suchender geblieben, ein spielerisch tastender, experimentierfreudiger Regisseur – das ist es wohl vor allem, was ihn jung hält, ihm bis heute Kraft gibt.
Einen „Revolutionär“ nennt ihn zutreffend Bert Rebhandl in seiner anregenden und wohltuend subjektiven Biografie, die gerade im Zsolnay Verlag erschienen ist, und Godard in die Tradition der Romantik um 1800 und ihrer Idee einer Universalpoesie stellt. Godard besitzt nicht nur großes handwerkliches Können, ist vielseitig, und hat Erfolg. Entscheidender ist seine Fähigkeit zur Innovation, zur Erneuerung des Mediums.
Vor allem aber besitzt er Virtuosität, also eine gewisse Eleganz und ein spielerisches Verhältnis zu seinen Mitteln. Godard hat zudem wie nur ganz wenige auch die Fähigkeit, das, was er tut, seinem Publikum zu vermitteln. Und wenn er will, kann er sehr viel Charme haben und sehr gewinnend sein.
„Kino ist Wahrheit 24 mal in der Sekunde“; „Ein Film hat einen Anfang, eine Mitte und ein Ende – aber nicht notwendig in dieser Reihenfolge“. Um einprägsame Sprüche war er nie verlegen. Zugeschrieben wird ihm auch der Satz: „Alles was ein Film braucht, ist ein Girl und eine Knarre.“ Es gibt aber noch einen schönen, klassisch gewordenen Satz von Godard: „Es geht nicht darum, politische Filme zu machen, sondern es geht darum, politisch Filme zu machen.“ Der gibt auch die Antwort auf Godards Verhältnis zu Frauen und zur Frauenemanzipation. Man könnte ihn nämlich auch im Sinne Godards umformulieren: Es geht nicht darum, feministische Filme zu machen, sondern es geht darum, feministisch Filme zu machen – und das hat Godard tatsächlich schon getan zu einer Zeit, als es den Ausdruck Feminismus kaum gab. Frauen sind von Anfang an seine Hauptfiguren und die klügeren, aktiveren Charaktere. Ob mit oder ohne Pistole in der Hand.
Godard hat das Kino gleich mehrfach revolutioniert. Ende der 50er-Jahre wurde er zum Begründer der Nouvelle Vague, der „Neuen Welle“ Frankreichs, die noch mehr als die gleichzeitigen Bewegungen in anderen Ländern und die italienischen Neorealisten 15 Jahre zuvor, zu einem zweiten Gründungsakt des Kinos wurde. Jetzt erst unterschied sich das Kino Europas von Hollywood.
Godard gelang das, indem er den Begriff des Autorenfilms, der in der Theorie schon vorher formuliert war, in die Praxis übersetzte und für die neuen technischen Möglichkeiten (zum Beispiel leichtere Kameras) fruchtbar machte. Raus aus den dunklen Studios und einfach mit Freunden Filme machen, bei hellem Licht, in der Natur, mit Laien und dokumentarischen Elementen.
Der Hunger nach der Wirklichkeit paarte sich mit einem neuen Bewusstsein für Film als Kulturgut und die Geschichte des Kinos. Godard entdeckte Lubitsch und Lang, Chaplin und Keaton neu, feierte Zeitgenossen wie Hitchcock und Preminger als „Autoren“. Auf einmal waren Filme nicht mehr nur die Fortsetzung des Theaters mit anderen Mitteln, sondern sie handelten unmittelbar vor der konkreten Realität der jungen Generation der Nachkriegszeit: Von ihren Sorgen, aber vor allem von ihren Träumen und Begierden, ihrer Mode und ihrer Musik. „Die Kinder von Marx und Coca-Cola“ – so heißt einer der Filme Godards, der mit „One plus One“ 1968 auch einen Dokumentarfilm über die Rolling Stones gedreht hat. Es war eine Zeit des Aufbruchs, der Jugend, der Kulturrevolution – und das Kino der Nouvelle Vague war ein Teil von alldem.
Godard hat das natürlich nicht allein gemacht. Aber er war Orientierungspunkt und Führungsfigur.
Er war tatsächlich auch derjenige, der die einfallsreichsten, innovativsten Mittel gebrauchte: eine völlig den Regeln widersprechende, ruckartige, sprunghafte Montage und einen neuartigen Einsatz der Musik. Kino wurde plötzlich Teil der Pop-Kultur. Und zugleich wurde es intellektuell: Godards Themen, mit leichter Hand inszeniert, sind die Weltgeschichte, die Filmgeschichte, Philosophie, Psychologie, Soziologie. Schließlich war Godard immer schon ein sehr selbstkritischer, mit sich hadernder Filmemacher, einer, der sich mit jedem Film selbst neu erfand. Nur dem Kino vertraut er – seiner Fähigkeit, nicht nur Spektakel zu sein, sondern das Gewesene unverfälscht zu bewahren und dabei doch immer zu überschreiten.
Heute ist Godard Seele und Weltgeist der Kinokunst, der beste lebende Regisseur. Wer sollte es sonst sein? Es gibt viele sehr gute Regisseure, aber es gibt keinen zweiten Godard.