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Buchvorstellung

Buchvorstellung: Die Geschichte der Gefühle

Kultur / Lesedauer: 4 min

Rob Boddices „Geschichte der Gefühle“ lenkt den Blick auf die Pest in Athen vor 2500 Jahren
Veröffentlicht:23.04.2020, 06:00

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Haben unsere Vorfahren „genauso gefühlt wie wir“? Der britische Historiker Rob Boddice, Mitarbeiter der Freien Universität Berlin und des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, beschäftigt sich mit der Geschichte von Gefühlen. Er tut es mit wachem Sinn für die argumentativen Fallen und Zirkelschlüsse, in die man dabei zu geraten pflegt. Sein Buch ist blitzgescheit und denkbar weit entfernt von psychologischer Ratgeberliteratur. Es spannt mit Fallbeispielen einen Bogen von der Antike bis zur Gegenwart. Und es steuert zielstrebig auf markante Texte der Mentalitätsgeschichte zu.

Einen dieser Texte liest man, von Boddices Buch angeregt, in diesen Tagen mit gesteigerter Aufmerksamkeit nach: Es ist die Darstellung des antiken Historikers Thukydides über den Krieg zwischen den Stadtstaaten Athen und Sparta um die Vorherrschaft in Griechenland. Denn in diese Zeit fällt eine Seuche, die Athen in den Jahren um 430 vor Christus heimsuchte.

Angesichts der aktuellen Pandemie überrascht die Präzision der Beschreibung. Thukydides interessiert sich für den Weg, den sie aus Afrika kommend genommen hat: Sie trat in Athen zuerst im Hafen Piräus auf, bevor sie in die Stadt selber vordrang. Die war damals dicht besiedelt. Auf dem flachen Land, wo der Gegner herkam, brach die Seuche nicht aus. Der Autor war selber daran erkrankt. Und so zählt er die Symptome mit geradezu klinischer Präzision auf. Er überlebte und fühlte sich danach sicher, da er beobachtete, dass Menschen, die sich erholt hatten, nicht ein zweites Mal erkrankten.

Solche detaillierten Angaben haben dazu geführt, dass in der Forschung viel Aufmerksamkeit darauf verwendet wurde, die Seuche zu klassifizieren, meist als Pest oder Typhus. Aber jüngere Untersuchungen an einem Massengrab aus dieser Zeit haben zu keinem überzeugenden Ergebnis geführt.

Boddice liest das Seuchen-Kapitel des Thukydides natürlich im Hinblick auf sein spezielles Interesse an Gefühlslagen. Da ist die Verzweiflung der Kranken, die in Apathie umschlägt: „Das Allerärgste war die Mutlosigkeit, sobald sich einer krank fühlte, sodass er sich viel zu schnell aufgab.“ Es gibt das Mitleid der Angehörigen, die helfen wollen „und sich bei der Pflege einer am anderen ansteckten und wie die Schafe hinsanken“.

Und schließlich gibt es die Auswirkungen auf die Gesellschaft. Thukydides schildert seine Heimatstadt als eine liberale Kultur, die Gefahren mit zupackendem Optimismus zu begegnen gelernt hat. Nun aber, unter der allgegenwärtigen Todeserfahrung, kippt diese Mentalität. Das geordnete Zusammenleben der Menschen löst sich auf.

Auch Boddice hat beim Thema Gefühl nicht nur das Individuum im Blick, sondern ebenso, ja vor allem, die Gesellschaft. Ihn interessieren „emotionale Regime“. Boddice schreibt: „Der bedeutendste Beitrag der Emotionsgeschichte liegt meiner Meinung nach darin, zu beleuchten, wie die Mächtigen, bzw. ihre Institutionen, emotionale Vorschriften schaffen. Hierdurch wird deutlich, inwiefern menschliche Gefühle kulturell geformt sind. Das was unbewusst oder natürlich scheint, ist wesentlich durch die kulturellen Netze beeinflusst, in denen die menschliche Biologie gefangen ist“.

Boddice verharrt nicht in der Antike. Er schreitet voran und beobachtet die mittelalterliche Gefühlswelt der Hildegard von Bingen und das Verhältnis von Einfühlung und Distanz in der neuzeitlichen Medizin. Oder die Propagandatechnik, mit der England 1914 bei der Werbung von Kriegsfreiwilligen all denen ein schlechtes Gewissen einredete, die noch ohne Uniform durch die Straßen gingen.

Das heute brisante Thema, das politische Management von Seuchen, das Boddice bei seiner Thukydides-Lektüre streift, verfolgt Thukydides selber in seinem Buch weiter und beschreibt die Kapitulation der staatlichen Gewalt. Im Unterschied zu damals kann der heutige Staat sich und seinen Bürgern die Erkenntnisse der Wissenschaft der letzten 150 Jahre über die Infektionswege bei Pandemien zunutze machen (oder missachten). Boddice stellt jedenfalls mit seinem Begriff des „emotionalen Regimes“ Konzept und Instrumentarium bereit, um die unterschiedlichen Ausprägungen menschlicher Emotionalität in ihrer Epochenbezogenheit zu beschreiben. So verbindet er Macht und Emotion.

Das erlaubt es dann auch, das Krisenmanagement zu vergleichen, auf das die jeweils „Mächtigen und ihre Institutionen“ im Laufe der Geschichte bauten. Sie kapitulierten und kollabierten bei den Seuchenzügen im Mittelalter nicht wie Athens Demokratie in der Antike. Die Kirche operierte damals mit einem „emotionalen Regime“ aus Ängsten und Schuldgefühlen und forcierte damit – wenn auch unbeabsichtigt – die Ansteckung. Indem sie Unglücksfälle aller Art, vom Ernteausfall, dem Auftreten eines Kometen bis zur Pest, notorisch als Strafe Gottes für die Sünden der Menschen erklärte, trieb sie die Gläubigen zu öffentlichen Bußpraktiken an – und damit herdenweise zusammen. Das förderte die Ausbreitung der Seuchen.