Schwefelholz
Ballett: „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ in Zürich
Zürich / Lesedauer: 3 min
Da haben sich zwei gefunden: Helmut Lachenmann, der bald 84-jährige Komponist aus Leonberg, der sein Publikum auf Hörabenteuer schickt, und Ballettdirektor Christian Spuck , der keine Grenzen zu kennen scheint, mit seinem Ensemble Geschichten zu erzählen. Nun hat er sich Lachenmanns „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ vorgenommen: jene 1997 in Hamburg uraufgeführte Oper, die der Komponist „Musik mit Bildern“ nennt und die so viel mehr ist als eine „Vertonung“ des Andersen-Märchens.
Vor sieben Jahren war Helmut Lachenmann zum zweiten Mal zu Gast bei den Internationalen Weingartener Tagen für Neue Musik gewesen. Auch wenn Lachenmanns Stil inzwischen prägend und nicht mehr provozierend ist, bleibt das „Mädchen“ bei der Schweizer Erstaufführung eine Hörschulung für offene Ohren: Da gibt es das feine Knistern, wenn Styroporteilchen aneinander gerieben werden. Da gibt es den Atemhauch, das Schnattern. Kälte wird hörbar gemacht. Die „Musik mit Bildern“ wird zum Klangtheater in einem umlaufenden Raumklang, die erfahrenen Basler Madrigalisten (Einstudierung Raphael Immoos) singen von den Proszeniumslogen und den Rängen aus. Der Orchestergraben im Opernhaus ist für die zahlreichen Schlaginstrumente und Klaviere vergrößert; Instrumentalisten sind ebenfalls im ganzen Raum verteilt, in der letzten Szene schickt Mayumi Miyata die zauberischen Klänge der japanischen Mundorgel von der Bühne aus in den Raum.
Wie Erfrieren klingt
Ebenso sind die beiden Sängerinnen Alina Adamski und Yuko Kakuta mit ihren expressiven Linien und Sprüngen in das Geschehen auf der Bühne eingebunden. Es gilt, Klänge, Stimmen und Instrumente auf sich wirken zu lassen, auch das allmähliche Verlöschen und die Stille auszuhalten. Für das riesig besetzte Orchester der Philharmonia Zürich sind Lachenmanns feinstoffliche, nur manchmal ins Fortissimo aufwallende Klänge eine große Herausforderung, Dirigent Matthias Hermann, Schüler von Lachenmann und Spezialist nicht nur für das „Mädchen mit den Schwefelhölzern“, hat sie dem Opernorchester auf beeindruckende Weise nahegebracht.
Lässt sich dieses so vielschichtige Musiktheaterwerk in Tanz übersetzen? Christian Spuck, der lange Jahre in Stuttgart war und auch durch die dortige Inszenierung mit dem Komponisten vertraut ist, erzeugt wieder eine faszinierende Sogkraft in der Vielfalt der Bewegungssprache und zieht das gesamte Ensemble hinein. Lachenmanns „Bilder“ entstehen ja dadurch, dass das frierende Mädchen seine Zündhölzer abbrennt und mit jedem „Ritsch“ eine andere Szene aufscheint: die bürgerliche Gesellschaft beim festlichen Abendessen, Familienszenen unterm Weihnachtsbaum, ein Kaufladen, die Großmutter, die das erfrierende Mädchen zu sich in den Himmel holt.
Im Tanz, in den prächtigen Kostümen von Emma Ryott und in den beweglichen grau-schwarzen Wänden des Bühnenbildners Rufus Didwiszus holt Spuck fast mehr von Andersens Märchenwelt auf die Bühne zurück als Lachenmann mit seiner filigranen Musik. Zwei Szenen sind herausgehoben: Gudrun Ensslin, die ebenfalls „zündelte“ und dabei Menschen tötete – Lachenmann zitiert einen Text von ihr, eine Tänzerin steht mit grimmigem Gesicht auf der Bühne, den Fuß auf einem am Boden liegenden Tänzer. Und „Zwei Gefühle“ auf einen Text von Leonardo da Vinci, der aus der Kälte des Andersen-Märchens in die Vulkanhitze Siziliens führt. Der Komponist trägt ihn selbst vor, Sprache wird zur Musik, zischend, stammelnd, aufgelöst in einzelne Silben oder Buchstaben, unterstrichen von Tänzern in Schwarz und einem in langsamer Intensität verbundenen Paar.
Tanz und Spiritualität
Christian Spuck schöpft aus dem Bewegungsrepertoire des klassischen und des modernen Tanzes, mal eckig und verkrümmt, in Paarbegegnungen und Gruppendynamik, mit kunstvollen Hebungen oder in einer berührenden Szene, wenn eine Tänzerin von einer großen Gruppe getragen wird: Da verbinden sich Tanz und Spiritualität. Das Premierenpublikum ließ sich fesseln von zwei Stunden intensiven Tanz- und Musiktheaters und sicherlich müsste man auch diese Produktion mehrmals sehen, um alles aufzunehmen.