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Autor spricht über die Gefahren der Freiheit

Kultur / Lesedauer: 5 min

Autor spricht über die Gefahren der Freiheit
Veröffentlicht:08.12.2016, 18:28

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Die Flucht und das Leben in der Fremde sind die großen Themen von Bachtyar Ali. Der irakische Autor lebt seit 20 Jahren in Deutschland, aber seiner kurdischen Heimat ist er immer noch verbunden. Auch in seinem jüngsten Roman „Der letzte Granatapfel“ wird das deutlich.

Jakobi Snauber hat für die Freiheit gekämpft, ist satt und reich geworden. Doch die Leere in ihm und die Gefahren der Freiheit haben einen verstockten, unglücklichen Menschen aus ihm gemacht. Über seinen früheren Chef Snauber erzählt Muzafari Subhdam den anderen Flüchtlingen, mit denen er auf einem Boot in der Ägäis nach Europa sitzt. Dass die Flucht auch immer eine Flucht vor sich selbst sei, dass jene, die aus gutem Grund geflohen sind, in der Fremde erneut zu Gefangenen werden, von Stadt zu Stadt ziehen, ihre Beziehungen und Ehen zerbrechen, ist das große Thema des irakischen Autors Bachtyar Ali in seinem Roman „Der letzte Granatapfel“.

Die Geschichten der Großmutter

Bachtyar ist Kurde, er stammt aus Sulaimaniya, so etwas wie der intellektuellen Hauptstadt des Nordirak. Der Vater hat ihm und den Geschwistern die russischen Autoren Maxim Gorki und Michael Scholochow nahegebracht, indem er den Kindern deren Werke nacherzählt hat. Für Bachtyar Ali aber waren die Geschichten seiner Großmutter prägend. Sein Buch ist darum eine Sammlung von Fabeln voller Farben, von kleinen und großen Parabeln, bei denen der Leser manches Mal nicht mehr weiß, ob er sich noch in der irakischen Gegenwart befindet oder schon in den Märchen aus 1001 Nacht. Dieses Buch ist eine Einführung in eine fremde Welt, die Europa geografisch nahe ist, und die mit den Flüchtlingen auch hierher kommt.

Seine Großmutter habe nur auf dem Boden sitzen können, seit sie als junge Frau vom Dach gestürzt und querschnittsgelähmt gewesen sei. „Sie hat uns Geschichten erzählt über Bäume, an denen Früchte wachsen, aus denen, wenn man sie öffnet, Märchenwesen kommen. Sie sprach über Flüsse mit gelber, roter und grüner Färbung“, berichtet der Autor. Er lebt seit 20 Jahren in Deutschland, doch sein Gesicht hellt sich dann auf, wenn er von dieser Frau mit ihren orientalischen Geschichten berichtet, in denen Männer auf der Suche nach der großen Liebe in die Welt hinausgehen und dabei viele Rätsel lösen müssen, bis sie Erfüllung finden.

Geschichten als Schutz gegen die grausame Realität

Die Geschichten der glücklichen Großmutter in Sulaimaniya seien wie ein Schutz gewesen gegen die irakische Realität vor der Tür, gegen die Verfolgung der Kurden durch den Diktator Saddam Hussein. Heute bräuchten die Kinder im Irak eigentlich viel mehr solche Geschichten, weil auch ihre Welt grausam sei. „Wer nur die Schlachtfelder, die Schützengräben, den Kugelregen und die Bombardements kennt, weiß nichts von den anderen Arten des Krieges, die viel schmutziger und hinterhältiger sind. Ich sage dir eins: Jene Kriege, die von klugen Männern geführt werden, sind tausendmal dreckiger als jene Kriege, in denen wilde, ahnungslose Männer, wie wir es waren, aufeinander losgehen“, heißt es in „Der letzte Granatapfel“.

Bachtyar beschreibt die Beklemmung, die eintritt, wenn die Freiheit erkämpft ist. „Das Wort Freiheit hat nur Katastrophen erzeugt, weil es immer falsch benutzt wird, es löst Hass und Krieg aus“, hat der Iraker bemerkt. Und tatsächlich zeigt die Geschichte von Befreiungen, dass neue Machthaber sich schnell als gute Lehrlinge jener zeigen, die sie stürzten. Das war in Nicaragua so, in Zimbabwe, und natürlich im Irak, wo auf einen Diktator viele kleine Diktatoren folgten. Sie alle erwiesen sich als unfähig, das Land zu einen und den Bürgerkrieg zu verhindern. Sie alle korrumpierten den Begriff der Freiheit, sagt Bachtyar, und hat für sich erkannt, dass es in einem Land wie dem Irak derzeit weniger um politische als um individuelle und innere Freiheit gehen kann.

Er warnt davor, die Zeit Saddams mit jener heute zu vergleichen. Beide hätten düstere Phasen über das Land gebracht. Dass er heute in Deutschland lebt, hat wohl auch mit seiner Kritik an den neuen Herren im Irak zu tun. „Wir haben im Nordirak einen Grad von Freiheit, aber die Macht hat feudalistische Züge. Man kann Parteien, das System, die Regierung kritisieren, den Präsidenten Barzani und seine Familie aber besser nicht.“

Das große Problem nahöstlicher Gesellschaften sei doch, dass man sich Anfang des 20. Jahrhunderts, unter den britischen und französischen Kolonialmächten, zwar in den Städten und in der Verwaltung modernisiert habe, die Gesellschaften und ihre Denkweisen, auch ihre Religion, sich dieser Modernisierung aber verweigert haben. Das sei auch eine Erklärung für den gigantischen zivilisatorischen Rückschritt, der sich im Staatszerfall und Terrorismus äußere.

Erinnerung bewahren

Literatur sei für ihn ein Instrument gegen die nachlassende Erinnerung, sagt der Autor, sie helfe Lesern, die Welt besser zu machen, sich moralisch zu stählen. Im Irak sei sie ein Mittel gegen die geistigen Brandstifter.

Der Held Muzafari in seinem Roman sagt, er schäme sich dafür, „dass er nicht zu den glücklichen Männern gehörte, nicht einer jener Männer war, die die Welt regierten.“ Europa habe zu wenig Druck auf die Herrschenden in Erbil und in Bagdad ausgeübt, sagt Bachtyar, damit die Region Kurdistan ein Modell an Demokratie und Stabilität werde. Auch darum würden Menschen fliehen, weil sie sich mit dem Nepotismus und dem Abgleiten in eine moderate Diktatur nicht anfreunden könnten, sagt er.

Der Verrat der Ideale, für die einst gekämpft wurde, folgt auf den Verrat an früheren Gefährten. „In Freiheit verliert der Mensch seinen Wunsch und seinen Drang, nach dem Sinn des Lebens zu suchen“, weiß Muzafari, der 21 Jahre in einem Wüstengefängnis verbracht hat, und dem die schweigsame Wüste der beste Freund gewesen ist. Flucht, so hat er bemerkt, endet nicht damit, dass man die Gefahrenzone verlässt.

Bachtyar Ali: Der letzte Granatapfel. Aus dem Kurdischen von Ute Cantera-Lang und Rawezh Salim. Unionsverlag Zürich 2016, 346 Seiten, 22 Euro.