Bodensee Business Forum 2023
Palmer wird bei Klimaschutz und Flüchtlingskriminalität deutlich
Friedrichshafen / Lesedauer: 8 min

Erich Nyffenegger
Wahrscheinlich ist es dem Moderator Uli Reitz und Boris Palmer da oben auf der Bühne des vollen Ludwig-Dürr-Saals im Graf-Zeppelin-Haus zu Friedrichshafen selber gar nicht aufgefallen.
Aber die beiden Protagonisten des Gesprächs unter dem sich sehr bald als irrelevant herausstellenden Titel „Verwechseln Politiker Wunschdenken mit Fakten?“ sind zugleich auch Antagonisten: Der eine, Uli Reitz, erfahrener Hauptstadt-Journalist, der wahrscheinlich mehr Nummern von Spitzenpolitikern in seinem Notizbuch hat als Boris Palmer bundesweite Schlagzeilen aufgrund seiner Rhetorik.
Und eben dieser Palmer, der mit seinem Tübingen ja genau genommen als Oberbürgermeister einer unter ferner liefen sein könnte. Also Hauptstadt versus Provinz. Bundespolitik versus Lokalpolitik. Zentrum der Macht versus Kommune.
„Begrüßen Sie mit mir Deutschlands bekanntesten Oberbürgermeister“, sagt Reitz, der Chefredakteur des Nachrichtenmagazins Focus war und nun Chefkorrespondent bei Focus Online ist.
Und sofort spürt man: Das Publikum des Bodensee Business Forums in Friedrichshafen klatscht anders als bei anderen Politikern. Es schwingt eine Sympathie im Applaus mit, die Volksvertretern, die weniger polarisieren und sich vorbildlich an das, was man „political correctness“ nennt, halten, oft versagt bleibt.
Weil Palmer eben kein begnadeter Eiertänzer ist und auf dem dünnen Eis der Empfindsamkeiten gerne mal kräftig aufstampft, bis es knirscht und schließlich kracht.
Anreise mit dem Fahrrad
Als er auf die Bühne kommt, ist von Stampfen noch nichts zu spüren. Beschwingt könnte man seinen kurzen Weg zum gelben Sofa nennen. Mit entspannter Körperhaltung berichtet Palmer davon, wie er nun mit dem Zug von Tübingen nach Bad Saulgau gefahren sei ‐ und den Rest mit dem Fahrrad an den Bodensee.
Wenn alle sagen, wir können es nicht retten, dann wird es auch nicht gerettet.
Das liege an den „Empfehlungen der Bahn“, die früher mal Fahrplan geheißen hätten. Worauf der „sportliche Klartext-Politiker“, wie Uli Reitz ihn nennt, aus der infrastrukturellen Not eine Tugend gemacht habe.
Womit das Podium bereits in der launigen Vorrede etwas vom derzeitigen gesellschaftlichen Klima gespiegelt bekommt, in dem die Unzufriedenheit allgegenwärtig zu sein scheint. Und damit die Frage, was denn im Moment der größerer Angstmacher sei ‐ „Klima oder Migration?“, wie Reitz wissen will. „Da müssen wir zwischen Dringlichkeit und Wichtigkeit unterscheiden“, sagt Boris Palmer, der die Klimafrage vielleicht für wichtiger hält, die derzeitige Situation der Migration aber für dringlicher.
Wobei Reitz den Ball für den Oberbürgermeister auf den Elfmeterpunkt legt, wenn er ihn nach dem Vorankommen der Klimaziele in Tübingen fragt und wissen möchte, ob in Palmers Stadt das Weltklima gerettet werde. Seine Antwort: „Ja und nein.“
Die Ausrede mit den zwei marginalen Prozent, die Deutschland zum weltweiten CO2-Ausstoß beitrage, und damit sowieso nichts ausrichten könne, dürfe man nicht durchgehen lassen. Denn: „Wenn alle sagen, wir können es nicht retten, dann wird es auch nicht gerettet.“
Klimaschutz nur mit den Kommunen
Wichtig sei vor allem, ob es möglich ist, Wohlstand und Klimaschutz zu verbinden. „Selbst in katholischsten Landstrichen wachen die Leute nämlich morgens nicht mit dem Gedanken auf, unbedingt Verzicht üben zu wollen.“
Wie kann man überhaupt ein Gesetz wie das Heizungsgesetz verabschieden, ohne mit den Kommunen ins Gespräch zu gehen?
Dass das neue Wohlstandsversprechen durch erneuerbare Energien zumindest in Teilen aufgehen kann, erlebt Tübingen gerade aufgrund des hohen Anteils an Fernwärme, Wind- und Solarenergie. „Das hat zu Rekordergebnissen bei unseren Stadtwerken geführt“, sagt Palmer.
Denn während Gas preislich explodiert sei, „ist der Wind immer gleich teuer“. Die Investitionen hätten sich gelohnt, der Sprung vom Reden ins Handeln. Womit die für 2030 angestrebte Klimaneutralität Tübingens weniger wie eine Utopie klingt, sondern wie ein in der Wirklichkeit verankerter Zeitplan.
„Wie kann man überhaupt ein Gesetz wie das Heizungsgesetz verabschieden, ohne mit den Kommunen ins Gespräch zu gehen?“, fragt sich Uli Reitz laut auf der Bühne ‐ und Palmer antwortet, dass er das Schlimmste am Gesetz nicht das Gesetz an sich, sondern dessen Ausdehnung auf 190 Seiten findet.
Denn allein die schiere Seitenzahl dokumentiere aus seiner Sicht, wie Deutschland „überreguliert und stranguliert“ werde. Sich in Details verliere, statt die großen Stellschrauben zu drehen. Bis zu dieser Stelle des Gesprächs ist bereits mehrmals Zwischenapplaus aufgebrandet. Und Boris Palmer hat sein Heimspiel rund 135 Kilometer südlich vom eigenen Rathaus.
Palmer und der Rassismusbegriff
In Berlin nicht gehört zu werden und dass die Berliner Politiker zugleich den Schuss nicht gehört hätten, führt das Bühnen-Duo geradewegs aufs gesellschaftliche Minenfeld der Migration. Erst am 20. September kam es in Tübingen zu einem Vorfall, bei dem ein Geflüchteter aus Gambia zwei Polizisten schwer verletzt haben soll.
Ist es rassistisch, wenn man die Statistik zitiert, in der bestimmte Migranten bei Verbrechen überrepräsentiert sind?
Woraufhin Palmer ‐ bisher erfolglos ‐ um Details zum mutmaßlichen Täter bei Innenminister Strobl (CDU) und Justizministerin Marion Gentges (beide CDU) gebeten hatte, um sich gegen ein Risiko, das möglicherweise für die Bevölkerung durch den wieder auf freien Fuß gesetzten Mannes bestehe, wappnen zu können.
Das konkrete Beispiel kommt auf dem Podium aber nicht zur Sprache. Trotzdem zentriert sich das Gespräch auf den Punkt, was im Zusammenhang mit Zuwanderung und Integration sagbar sei und was nicht.
Palmer beklagt, dass sich der Rassismusbegriff, wie er ihn einmal gelernt habe, drastisch verändert habe. „Ist es rassistisch, wenn man die Statistik zitiert, in der bestimmte Migranten bei Verbrechen überrepräsentiert sind?“ Eifriger Zwischenapplaus im Saal beantwortet seine Frage.
Wenn Politiker sich scheuten, über solche Probleme offen zu reden, wende sich der Wähler eben an Politiker, die nichts anderes täten. Und in der Stille der Wahlkabine werde angekreuzt, was man sich offen womöglich nicht zu zuzugeben getraue. Aus Angst, „als Rassist oder Nazi“ zu gelten.
Schmerz über Parteiaustritt
Umso mehr begrüßte Palmer das Machtwort von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), der verhindert habe, dass eine gemeinsame europäische Migrationspolitik mit Aufnahmezentren außerhalb der EU-Grenzen verunmöglicht werde. Damit nur noch Menschen einreisen könnten, die auch tatsächlich Recht auf Asyl hätten ‐ und ansonsten gar nicht erst hinter die Grenze der EU kämen.
Eine Position, mit der sich besonders die Grünen nicht leicht tun. Genauso wenig, wie sich Boris Palmer bekanntermaßen mit den Grünen nicht leicht tut, die er nach fast drei Jahrzehnten Mitgliedschaft nach umstrittenen Äußerungen im Juni verlassen hatte.
Als Uli Reitz ihn fragt, wie das denn nun sei für ihn, eben kein Grüner mehr zu sein, wird Palmer kurz nachdenklich und sagt: „Wer so lange dabei war wie ich und für den Ökologie so wichtig ist ‐ da ist es schon sehr schmerzhaft, so viele Freunde und Erinnerungen aufgeben zu müssen.“ Ob es einen Weg zurück gibt, will Reitz wissen? „Die Frage stellt sich im Moment nicht.“ Wobei Palmer ein solches Comeback durchaus für möglich hält, wie er betont.
Palmer kritisierte Aiwangers Flugblatt-Umgang scharf
Sich nun aber anderen politischen Parteien ‐ wie etwa den Freien Wählern oder einer noch zu gründenden Partei der ehemaligen Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht anzuschließen ‐ verneint Palmer klar und kritisiert Hubert Aiwangers Umgang mit der Flugblattaffäre. „Das nehme ich ihm übel und mit so jemandem gehe ich nicht in eine Partei.“ Der Grund sei nicht, was ein damals 16-jähriger Aiwanger womöglich gemacht ‐ sondern wie sich der spätere Minister Aiwanger dazu verhalten habe.
Am Ende des Gesprächs lenkt Uli Reitz den Fokus auf Palmers Herkunft und seinen Vater, der als „Remstal-Rebell“ die Obrigkeit in vielen Fällen mit seinen Überzeugungen provoziert habe.
„Er zog über die Marktplätze und sprach darüber, was im Land schief lief“, erinnert Reitz ‐ wobei ihm Boris Palmer schnell den Wind aus den Segel nimmt und eine Romantisierung der Figur seines Vaters mit dem Hinweis entgegentritt, dass „es auch eine Kehrseite der Medaille“ gegeben habe. Nämlich einen Vater, der für seine Überzeugungen eineinhalb Jahre ins Gefängnis wanderte.
Was für die Familie zu jener Zeit ein harter Brocken gewesen sei. Bei der Verurteilung ging es damals unter anderem darum, dass Helmut Palmer Leitplanken an Straßen ohne zu fragen abgerundet hatte. Um die Unfallgefahr zu minimieren. „Das ist ihm vom Gericht als Sachbeschädigung ausgelegt worden. Heute ist es ganz normal, dass Leitplanken abgerundet und zum Boden hin geformt sind“, sagt Palmer.
Im damaligen Richterspruch hat es laut Sohn Boris geheißen: „Palmer muss besonders hart bestraft werden, weil er uneinsichtig ist, dass Probleme nur behördlicherseits beseitigt werden können.“ Nach kurzer Pause grinst Boris Palmer ins Publikum und sagt: „Darum bin ich Behörden-Chef geworden, damit ich die Probleme selber beseitigen kann.“
Damit geht Palmers Auftritt in Friedrichshafen zu Ende und nicht wenige Zuhörer werden die Frage von Uli Reitz mit ans Büffet nehmen, ob aus einem parteilosen Palmer vielleicht mal ein Bundeskanzler werden könne. Dass der Tübinger OB mit einem kopfschüttelnden Lachen nicht weiter darauf eingegangen war, macht sein Heimspiel nicht weniger unterhaltsam.