Serie: „Baustelle Deutschland“

Deutschlands Sozialsysteme unter Druck: Mit politischem Mut gegen die Krise

Wirtschaft / Lesedauer: 7 min

Ob Rente, Pflege oder Gesundheitswesen: Wenn ein Wohlfahrtsstaat in die Krise rutscht, geraten Sozialsysteme ins Wanken. In der Bundesrepublik ist die Lage besonders prekär.
Veröffentlicht:11.09.2023, 18:00

Von:
  • Carsten Korfmacher
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Bürgergeld, Mütterrente oder Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz: Vor allem in Krisenzeiten stellt sich die Frage, wie ein Wohlfahrtsstaat steigende Sozialleistungen stemmen kann. Seit Gründung der Bundesrepublik war diese Frage noch nie so dringend wie heute.

Denn mit dem demografischen Wandel gerät der Arbeitsmarkt, der bei einer Umlagefinanzierung den wichtigsten Finanzierungsfaktor bildet, zunehmend unter Druck. Ein Grund, sich das deutsche Sozialsystem genauer anzusehen.

Es geht um gewaltige Beiträge

Die Beträge, um die es dabei geht, sind gewaltig: 1,18 Billionen Euro gaben Bürger und Unternehmen im Jahr 2022 für die sozialen Sicherungssysteme der Bundesrepublik aus. Dieses sogenannte Sozialbudget von rund 1.180 Milliarden Euro ist der große Umverteilungstopf der Bundesrepublik.

Aus diesem Topf wird der gesamte deutsche Sozialschutz bezahlt, wie aus Zahlen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales hervorgeht: 475 Milliarden für Renten aller Art, 459 Milliarden für Krankheit, Pflege und Unfälle, 131 Milliarden für Kinder oder 37 Milliarden für Arbeitslose. Insgesamt gibt die Bundesrepublik mehr Geld für Sozialleistungen aus als beispielsweise die Niederlande, die Türkei oder die Schweiz überhaupt insgesamt erwirtschaften.

Die nackten Zahlen hören sich zwar dramatisch hoch an, sagen an sich aber nicht viel aus. Viel wichtiger ist die Frage, wie groß der Anteil des Sozialbudgets an der gesamten Wirtschaftsleistung ist und wie sich dieses Verhältnis entwickelt. Die gesamte deutsche Wirtschaftsleistung betrug im Jahr 2022 nach Angaben des Statistischen Bundesamtes rund 3,87 Billionen Euro.

Der Anteil der Sozialleistungen am Bruttoinlandsprodukt der Bundesrepublik lag also bei etwa 30,5 Prozent. Lässt man die Corona–Ausreißerjahre 2020 und 2021 außen vor, ist dies die zweithöchste, in der Geschichte der Bundesrepublik jemals erreichte Sozialleistungsquote.

Sozialausgaben steigen schneller als das Wirtschaftswachstum

Das muss nicht beängstigend sein. Denn ein robustes, soziales Sicherungssystem ergibt in Zeiten einer wachsenden Wirtschaft durchaus Sinn: Es stärkt die Kaufkraft der Bevölkerung in der Breite, wovon die Wirtschaft profitiert. Es fördert den gesellschaftlichen Frieden und reduziert soziale Spannungen und Kriminalität, was zu einem stabilen wirtschaftlichen und politischen Umfeld führt.

Das macht das Land als Produktionsstandort und Investitionsraum attraktiv. Zugleich federt der Sozialstaat zum Beispiel durch Kurzarbeit–Regelungen oder ein großzügiges Arbeitslosengeld die Schwere von unvermeidbaren Rezessionen ab, wodurch die Wahrscheinlichkeit von Negativspiralen reduziert wird.

Befindet sich eine Volkswirtschaft aber in einem anhaltenden Abwärtstrend, wird der Sozialstaat zu einer zunehmenden Belastung. Denn Sozialleistungen reagieren entweder gar nicht auf konjunkturelle Entwicklungen, beispielsweise Renten oder Leistungen der Krankenversicherung, oder sie entwickeln sich antizyklisch, wie Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe. Das heißt: In einem wirtschaftlichen Abschwung sinken Sozialleistungen nicht mit, sondern steigen tendenziell, weil zum Beispiel mehr Menschen arbeitslos werden.

Das bedeutet, dass die Sozialleistungsquote sensibel auf wirtschaftliche Entwicklungen reagiert. Fällt das Bruttoinlandsprodukt, dann steigt die Sozialleistungsquote automatisch. Für die Frage, ob der Sozialstaat langfristig finanzierbar ist, ist daher weder die absolute Höhe der Sozialausgaben noch die Sozialleistungsquote entscheidend. Ausschlaggebend ist, dass die Wirtschaftsleistung langfristig schneller wächst als das Sozialbudget.

(Foto: Bundesministerium für Arbeit und Soziales)

Und genau hier liegt die Gefahr für den deutschen Sozialstaat: Denn in den drei Jahrzehnten von 1991 bis heute ist das BIP um rund 144 Prozent gestiegen. Im selben Zeitraum stieg das Sozialbudget aber um 198 Prozent. Das heißt: Die Bundesrepublik hat in Zeiten wirtschaftlicher Stärke vor allem aus der Substanz gelebt. In den kommenden Jahren wird diese Schere aufgrund des demografischen Wandels weiter auseinandergehen.

Das führt zu einem strukturellen Finanzierungsproblem: „Wir kommen gerade aus einem goldenen Jahrzehnt, in dem die Zinsausgaben des Staates praktisch bei Null lagen und sich der Arbeitsmarkt ausweitete“, erklärt Tobias Hentze, Leiter des Clusters Staat, Steuern und Soziale Sicherung am Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln (IW). In dieser Zeit hätten viele zusätzliche Sozialleistungen wie die Mütterrente oder die Rente mit 63 finanziert werden können. Doch diese Zeiten seien nun vorbei. „Irgendwann holen uns diese zusätzlichen Sozialleistungen ein, das ist jetzt schon absehbar. Denn was einmal ausgeteilt wurde, kann man aus politischen Gründen kaum mehr zurücknehmen.“

Hartz IV, Sozialhilfe oder Asylleistungen spielen finanziell keine Rolle

Die Probleme lassen sich auch nicht lösen, indem die Kosten für Hartz IV, Sozialhilfe oder Asylleistungen reduziert werden. Denn die sogenannten Förder– und Fürsorgesysteme machen nur einen kleinen Teil des gesamten Sozialbudgets aus, wie aus dem Sozialbericht 2021 des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales hervorgeht.

Demnach fielen insgesamt 49,2 Milliarden Euro auf die Grundsicherung für Arbeitssuchende, die Hartz IV, Sozialgeld und alle anderen Leistungen, zum Beispiel für Unterkunft und Heizung, mit einschließt. 3,7 Milliarden Euro wurden als Regelleistungen zur Deckung des täglichen Bedarfs nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ausgegeben. Durch das Bürgergeld und die gestiegenen Zuwanderungszahlen werden diese Summen voraussichtlich steigen, doch selbst dann stehen sie in keinem Verhältnis zu den 1.180 Milliarden Euro, die das Sozialbudget insgesamt beträgt.

Ob das Bürgergeld unter Gesichtspunkten des Leistungsanreizes in einer von Fachkräftemangel geplagten Gesellschaft eine gute Idee ist, sei dahingestellt. Doch unter finanziellen Gesichtspunkten ist bei einer Kürzung dieser klassischen Sozialleistungen schlicht nichts zu holen: Allein die Zunahme der Ausgaben für Renten von 2020 (410,4 Milliarden) auf 2021 (475,0 Milliarden) liegt deutlich über den Gesamtausgaben für Arbeitslose, Asylbewerber und Sozialhilfeempfänger zusammen.

All das bedeutet, dass die Idee des Sozialstaats neu gedacht werden muss, um den Wohlfahrtsstaat auf finanziell solidere Beine zu stellen. In der Bundesrepublik ist das Sozialbudget ein riesiger Umverteilungstopf, aus dem jeder, vom Armen bis zum Gutverdiener, bedient wird. So wie es aussieht, wird die Politik künftig weniger Wahlgeschenke verteilen können und sich mehr auf die wirklich Bedürftigen konzentrieren müssen — auch im Sinne des sozialen Friedens in einem Land, das sich für einige Jahre oder Jahrzehnte in wirtschaftlich unruhigen Fahrwassern bewegen wird.

Politik muss sich an die großen Brocken wagen

Als Nächstes muss sich die Politik an die großen Brocken wagen. Unsere Serie wird noch zeigen, dass beispielsweise das Gesundheitswesen entschlackt und strukturell reformiert werden muss. Mehr noch: „Die größte Bedrohung für den Sozialstaat ist tatsächlich das Rentensystem“, sagte Robin Jessen, Experte für öffentliche Finanzen am Essener Leibniz–Institut für Wirtschaftsforschung (RWI). Der Kern des Problems:

Immer weniger Menschen schöpfen Werte und immer mehr wollen ihren wohlverdienten Teil der Wertschöpfung abhaben.

Robin Jessen

Dieses Problem ist seit Jahrzehnten absehbar, aber ebenso lange ungelöst. Eine Möglichkeit wäre, die Lebensarbeitszeit dynamisch an die Lebenserwartung zu koppeln: Je älter Menschen werden, desto länger müssen sie arbeiten. Wie man dies sozial gerecht organisiert, zum Beispiel über flexible Arbeitszeitkonten, in die Menschen in jungen Jahren mehr einzahlen können als im Alter, müsste in einer ehrlichen und unvoreingenommenen Debatte öffentlich neu ausgehandelt werden.

Bei alledem droht dem Sozialstaat trotzdem kurzfristig kein Zusammenbruch, auch nicht in wirtschaftlich harten Zeiten. Vielmehr droht die Höhe und der Anteil des Sozialbudgets schleichend immer weiter zu steigen, wodurch immer weniger Raum für notwendige Investitionen bleibt: in Infrastruktur, Bildung, Forschung und Entwicklung, Klimaschutz, Wirtschaftsförderung — generell in die Zukunft des Landes. Das ist das eigentliche Problem. Denn: Bleiben diese Investitionen aus, entsteht eine Negativspirale, die sich irgendwann nicht mehr stoppen lässt.

Im nächsten Teil: Das Gesundheitssystem liegt auf dem Krankenbett