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Zuckerwatte

Oktoberfest-Attentat: Warum die Opfer noch heute leiden

München / Lesedauer: 6 min

Vor 40 Jahren starben bei einem Anschlag auf dem Oktoberfest 13 Menschen, mehr als 200 wurden verletzt – Eines der blutigsten Attentate der Nachkriegsgeschichte wurde lange Zeit verharmlost und verdrängt – Die Opfer leiden darunter bis heute
Veröffentlicht:26.09.2020, 06:00

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München - Im Mund hat Robert Höckmayr noch den Geschmack von Zuckerwatte, im Bauch das Kribbeln vom Kettenkarussell. Für den Zwölfjährigen ist heute ein besonderer Tag: Mit seinen Eltern und den vier Geschwistern ist er aufs Oktoberfest gefahren – bewusst erst am späten Nachmittag, erzählt er, „weil wir die Wiesn mit ihren bunten Lichtern einmal bei Dunkelheit sehen sollten“. Vor dem Heimweg gibt‘s für die Kinder noch Süßes. Jetzt laufen und hüpfen sie zum Haupteingang hinaus und direkt auf einen Papierkorb zu, um dort ihre Zuckerwattestangerl wegzuwerfen.

„Plötzlich hat es einen Riesenknall gegeben, und ich habe eine Stichflamme gesehen“, erinnert sich Robert Höckmayr. Im nächsten Moment schleudert ihn eine Druckwelle meterweit durch die Luft. Die Bombe, die in dem Papierkorb explodiert ist, fügt ihm schwerste Verletzungen an Beinen und Gesicht zu – „aber meinen Körper habe ich zunächst gar nicht gespürt“. Vielmehr rappelt sich der Bub auf und sucht seine Familie. „Es war ein Trümmerfeld, abgetrennte Körperteile lagen herum, Menschen haben um Hilfe geschrien.“

Um 22.19 Uhr an diesem 26. September 1980 explodiert nahe des Haupteingangs der Wiesn eine aufgeschnittene Mörsergranate, gefüllt mit 1,4 Kilo Sprengstoff. Die Bombe verletzt 213 Menschen, 68 davon schwer. 13 Personen sterben – darunter die zwei kleinen Geschwister von Robert Höckmayr. Während er in jener Nacht auf die Intensivstation des Pasinger Krankenhauses kommt, entscheidet Münchens Oberbürgermeister Erich Kiesl: Das Oktoberfest soll weitergehen. Und so werden die Leichenteile eilig weggeräumt, der Platz gefegt und der Krater, den die Bombe gerissen hat, mit Teer befüllt. Am nächsten Morgen beginnt pünktlich um 11 Uhr der nächste Wiesntag – und Zigtausende trampeln über den Tatort einer der blutigsten Anschläge in der deutschen Nachkriegsgeschichte.

Derweil ringt die Politik um die Deutung der Tat – zehn Tage vor der Bundestagswahl , bei der Kanzler Helmut Schmidt (SPD) vom bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß (CSU) herausgefordert wird. Dieser gibt zunächst Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP) eine Mitschuld, spricht von „Verharmlosung des Terrorismus“ und meint die linksradikale RAF. Doch die Ermittlungen gehen schon bald in eine andere Richtung, als sich herausstellt, dass einer der Toten die Bombe gezündet hat, der direkt am Papierkorb stand. Sein Name: Gundolf Köhler.

Der 21-jährige Geologiestudent ist Mitglied der Wiking-Jugend gewesen; über seinem Bett in Donaueschingen hing jahrelang ein Hitler-Bild. Überdies hatte Köhler Kontakt zur rechtsextremistischen Wehrsportgruppe Hoffmann, die erst wenige Wochen vor dem Anschlag verboten wurde – und die Strauß jahrelang als eine Gruppe von „Spinnern“ verharmlost hatte. Die Ermittler stoßen auch auf Hinweise, dass Köhler womöglich Helfer hatte. Unter anderem finden sie im Aschenbecher des Autos, mit dem er nach München fuhr, 40 Zigarettenkippen unterschiedlicher Marken. Zudem berichten Zeugen, dass sie Köhler kurz vor der Tat in Begleitung gesehen haben. Doch in den Abschlussberichten von Landeskriminalamt und Generalbundesanwalt ist von einem Einzeltäter die Rede. Und als dessen Motive werden persönliche Frustration und Hass auf seine Umwelt angegeben – nicht etwa die rechtsradikale Gesinnung.

Derweil zerbricht die Familie von Robert Höckmayr an den Folgen des Attentats. Sie erhält keinerlei Hilfe – weder psychologisch noch finanziell. Sein überlebender Bruder wirft sich vor eine U-Bahn, die Schwester stirbt an einer Drogen-Überdosis. Allein Robert Höckmayr kämpft sich zurück ins Leben – ohne Unterstützung und trotz der psychischen und physischen Verletzungen, die er von dem Anschlag davongetragen hat. Bis heute stecken 26 Bombensplitter in seinem Körper. „Einer ist genau hier unterm Auge“, sagt er und zeigt mit dem Finger auf sein kantiges Gesicht.

Jahrzehntelang versucht Robert Höckmayr, die schrecklichen Erinnerungen zu verdrängen. Bei seiner Hochzeit 1993 nimmt er, der früher Platzer hieß, den Nachnamen seiner Ehefrau an – um Presseanfragen zu vermeiden. Erst 2008 ändert er seine Meinung und geht an die Öffentlichkeit, „weil die Ungerechtigkeit immer mehr zum Vorschein kam“. Seither kämpft er für ein angemessenes Gedenken und eine angemessene Unterstützung – auch vonseiten der Stadt München. Sie hat sich für beides lange nicht zuständig gefühlt. Als 2018 endlich eine Gedenktafel ans Oktoberfest-Attentat im Rathaus angebracht wird, räumt Oberbürgermeister Dieter Reiter ( SPD ) ein: „Wir haben viel zu lange die Angehörigen und Opfer des Anschlags mit ihrem Schmerz allein gelassen.“ Und Robert Höckmayr sagt an diesem Tag: „Der Staat, den wir damals gebraucht hätten, war meist aber nicht für uns da. Bis heute fühlen wir uns oft wie vergessene Zeugen der Vergangenheit.“

Während Behörden und Öffentlichkeit den Anschlag zügig zu den Akten legen, lässt zwei Männer die Tat nicht ruhen: Der Journalist Ulrich Chaussy und der Anwalt Werner Dietrich, der mehrere Opfer vertritt, kämpfen jahrzehntelang dafür, dass die Ermittlungen wieder aufgenommen werden. 2014 – die mörderischen Taten des NSU sind drei Jahre zuvor ans Licht gekommen – ist es schließlich so weit. Nachdem sich eine neue Zeugin bei Dietrich gemeldet hat, nimmt der Generalbundesanwalt die Ermittlungen wieder auf.

Fünfeinhalb Jahre lang arbeitet sich die „Soko 26. September“ durch 300 000 Seiten Akten und führt mehr als 1000 Vernehmungen. Im Juli 2020 werden die Ermittlungen wieder eingestellt. Es gebe „keine konkreten Anhaltspunkte“ für die Beteiligung weiterer Täter, heißt es im Abschlussbericht. Zu den Ermittlungen in den 1980er-Jahren sowie eventueller Versäumnisse und Fehler äußert sich der Bericht nicht. Dies sei „kein eigenständiges Ermittlungsziel“ gewesen, teilt ein Sprecher der Bundesanwaltschaft auf Nachfrage mit. Wohl aber ist die Sonderkommission jenen Spuren nachgegangen, die etwa der Journalist Ulrich Chaussy anführt (siehe Interview). So ordnet der Bericht eine in Tatortnähe gefundene Hand Gundolf Köhler zu. Und bei den Aussagen von Zeugen, die den Attentäter in Begleitung gesehen haben wollen, sei „ein unmittelbarer Bezug zum Anschlag nicht tragfähig herzustellen“, heißt es. Bei der Frage des Motivs jedoch vollzieht der Bericht eine 180-Grad-Wende: Gundolf Köhler, heißt es nun, habe aus rechtsradikaler Gesinnung ein politisches Attentat verübt, um die Bundestagswahl von 1980 zu beeinflussen.

Und auch im öffentlichen Bewusstsein scheint sich der Blick auf den Anschlag langsam zu wandeln. Erst vor wenigen Tagen hat die Bayerische Staatsregierung beschlossen, dass sich der Freistaat – nach jahrzehntelanger Weigerung – an einem Opferfonds beteiligt. Zusammen mit Bund und Landeshauptstadt will man 1,2 Millionen Euro bereitstellen. Derweil wird am 40. Jahrestag des Anschlags am Haupteingang der Theresienwiese ein neuer Gedenkort mit 200 lebensgroßen Silhouetten eröffnet. Zur Einweihung hat sich auch der Bundespräsident angekündigt. „Ich finde es gut, dass Herr Steinmeier kommt, weil es die Wichtigkeit des Themas zeigt“, sagt Robert Höckmayr. „Aber es kann das Geschehene nicht ungeschehen machen, was an Leid und Unverschämtheit über uns ergangen ist.“