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Christbaum

Tür 18: Karl Follen – der radikale Weihnachtsfreund

Ravensburg / Lesedauer: 8 min

Ein Impuls, ein paar Minuten zum Entspannen - jeden Tag bis Weihnachten nimmt unser Kolumnist Gregor von Kursell Sie mit in die wunderbare Zeit des Wartens auf Weihnachten.
Veröffentlicht:18.12.2022, 05:00

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Türchen zu! Fremde Weihnachtsbräuche haben bei uns nichts zu suchen. Wirklich? Deutschland ist Exportweltmeister – das galt lange Zeit auch für weihnachtliche Traditionen. Christbaum, Adventskranz, Adventskalender, Nussknacker, Christstollen, Weihnachtsmärkte O Tannenbaum – diese deutschen Errungenschaften genießt heute alle Welt zu Weihnachten .

Wir selbst sind allerdings inzwischen zu Importeuern geworden. Weihnachts-Trends aus den USA , Großbritannien und Skandinavien finden ihren Weg zu uns. Zum Jammern besteht jedoch kein Anlass.

Deutsche Bräuche breiten sich auf der Welt aus

Schon immer haben sich Bräuche in alle Richtungen verbreitet, sie haben sich vermischt und gewandelt. Werfen wir lieber einen Blick in die Zeit, als Deutschland die Welt mit weihnachtlichen Ritualen, Liedern und Dekorationsideen beschenkte. Machen wir also das heutige Türchen weit auf und lassen die weihnachtlichen Bräuche fliegen, wohin sie wollen.

Erfolg beim Export von Waren garantieren gewöhnlich zwei Faktoren: technologische Überlegenheit, die zu hoher Qualität führt, oder aber niedrige Produktionskosten. Geistige Güter werden meistens von Nationen verbreitet, die eine politische und wirtschaftliche Vormachtstellung einnehmen. Wie aber verbreiten sich Weihnachtsbäuche?

Im 19. Jahrhundert, der Zeit, als sich in Deutschland das heute bekannten Weihnachtsfest mit seinen Traditionen herausbildete, war das Land weder technologisch überlegen, noch ein kultureller Vorreiter. Deutschland war vielmehr ein Flickenteppich aus Kleinstaaten, politisch und wirtschaftlich rückständig.

Deutschland hängt zunächst hinterher

Die Industrialisierung, die anderswo längst angelaufen war, kam hierzulande nur langsam in Fahrt. Wo Fabriken entstanden, machte sie zunächst einmal Handwerker arbeitslos. Waren aus Deutschland galten als minderwertig, die Kultur als altbacken.

Es mag überraschend klingen, aber für die schnelle internationale Verbreitung der gerade erst entstehenden deutschen Weihnachtsbräuche sorgte gerade die Rückständigkeit. Armut und politischer Stillstand sorgten dafür, dass zahlreiche Menschen auswanderten.

Vor allem nach Amerika : zwischen 1820 und 1930 machten sich knapp sechs Millionen Deutsche in die USA auf. Natürlich nahmen sie ihre Bräuche mit. Den Christbaum zum Beispiel, der dort schnell populär wurde. Es mag sich hin und wieder zugetragen haben, dass alteingesessene Amerikaner ihre deutschen Nachbarn besuchten, dort einen Christbaum sahen und spontan ausriefen: „Awww, how sweeeet, das wollen wir auch!“

Das wäre aber ein mühseliger Weg gewesen, und der Brauch verbreitete sich seit den 1830er Jahren rasant. Das lag an den Medien, damals vor allem Zeitschriften, in denen Geschichten und Bilder über den Weihnachtsbaum erschienen.

Doch halt! Inzwischen sind wir aber schon fast bei der Hälfte des Textes angekommen und haben immer noch nicht den Helden unserer heutigen Kolumne kennengelernt. Unterbrechen wir an dieser Stelle also kurz und wenden wir uns Professor Karl „Charles“ Follen (1796 – 1840) zu. Dieser lehrte an der renommierte Harvard Universität, er hatte dort den ersten Lehrstuhl für deutsche Sprache inne.

Follen war in Hessen geboren und hatte in seiner Heimat gegen die Monarchie und für die deutsche Einheit gekämpft. Er galt als „Radikaler“. 1824 emigrierte er in die Vereinigten Staaten – nicht um der Armut, sondern der politischen Verfolgung zu entgehen.

Follen als Gegner der Sklaverei

In den USA machte er schnell Karriere. Er schloss sich allerdings bald den Gegnern der Sklaverei an und wurde einer der prominentesten Aktivisten. Das brachte ihm erneut Ärger. Letztlich verlor er sogar seine Professur, aber er war es ja von daheim gewohnt, für seine radikalen Überzeugungen drangsaliert zu werden.

„Wäre Charles Follen nicht 1840 im Alter von 43 Jahren gestorben“, spekuliert der amerikanische Historiker Stephen Nissenbaum , „wäre er heute für etwas Wichtigeres berühmt als für den amerikanischen Christbaum.“ Aber um den Christbaum geht es uns hier ja gerade.

Die Schriftstellerin Harriet Martineau besuchte die Follens über die Weihnachtstage des Jahres 1835 in Boston. Einen Abschnitt ihres späteren Buches widmete sie „Little Charley’s Christmas tree“, dem Baum, den die Follens damals für ihren fünfjährigen Sohn und dessen Freunde aufstellten.

Eine andere Freundin der Familie, die damals sehr populäre amerikanische Schriftstellerin Catharine Sedgwick, veröffentliche 1835 eine Geschichte, in der das deutsche Dienstmädchen einer reichen New Yorker Familie zum Fest einen Christbaum schmückt.

Follens Harvard-Kollege Hermann Bokum, auch er ein deutscher Emigrant, veröffentlichte 1836 eine Weihnachtsgeschichte die mit einem Christbaum bebildert war. Diese gilt als die früheste derartige Abbildung in den USA.

Follens Baum war sicher nicht der erste in Nordamerika. Friederike von Riedesel stellte für Ihren Ehemann, den General Friedrich Adolf Riedesel Freiherr zu Eisenbach, der im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg braunschweigischen Soldaten kommandierte, bereits im Jahr 1781 einen Baum auf.

Das war allerdings eine rein deutsche Weihnachtsfeier ohne Außenwirkung. Deutsche Emigranten in Pennsylvania sollen schon in den 1820er Jahren Bäume geschmückt haben. Follens Baum kann dennoch als Urahn aller amerikanischen Christbäume gelten.

Follen hatte einflussreiche Freunde, die den Weihnachtsbaum in der amerikanischen Mittelschicht bekannt machten. Viele davon gehörten, wie Follen selbst, der liberal-reformerischen religiösen Strömung der Unitarier an. Sie sahen, so der Historiker Nissenbaum, im zurückgebliebenen Deutschland einen Hort echter Gefühle.

Nicht nur der Baum wird Brauch in den USA

So etwa hatte der römische Schriftsteller Tacitus die barbarischen, aber unverdorbenen Germanen den dekadenten Römern gegenübergestellt. Deutsche Weihnachtsbräuche wie der Christbaum stünden demnach für reine Nächstenliebe, im Gegensatz zu dem – damals schon – kommerzialisierten amerikanischen Weihnachtsfest.

Nicht umsonst schmückt ein einfaches deutsches Dienstmädchen in Sedgwicks Geschichte den reichen Amerikanern einen Baum und macht sie so mit einem authentischen Brauch der einfachen Leute bekannt.

Der Baum war jedoch nicht der einzige Export aus Deutschland. Das Christkindl wurde in Amerika zu Kris Kringle, heute ein Beiname für Santa Claus. Der südwestdeutsche Pelznickel, einer der eher handfesten Gabenbringer, wurde in den USA zum weihnachtlichen Buhmann Belsnickel.

Auch der alpenländische Krampus ist in den USA heute ein beliebter Gast in Horrorfilmen. Mit deutschen Auswanderern scheint auch das in Österreich entstandene Lied Stille Nacht nach Amerika gekommen zu sein. Es wurde dort so populär, dass viele Menschen es schließlich für ein amerikanisches Werk hielten.

Manchen uramerikanischen Bräuchen wiederum wurde eine deutsche Vergangenheit angedichtet. So kam die rot-weiße Zuckerstange aus Deutschland, glauben viele Amerikaner. Der deutsche Emigrant August Imgard habe 1847 seinen Christbaum damit geschmückt.

Auch die Weihnachtsgurke, die in Amerika an den Baum gehängt wird, soll auf einen verwundeten Soldaten aus Bayern zurückgehen. Dieser wurde durch den Genuss einer sauren Gurke wundersam geheilt. Er gelobte daher, immer eine solche an seinen Christbaum zu hängen. Natürlich eine abstruse Geschichte, aber Hauptsache deutsch und rührselig.

Traditionen verbreiten sich bis nach England

Nicht nur radikale Demokraten und Wirtschaftsflüchtlinge waren es, die deutsche Weihnachtsbräuche in die Welt trugen. Auch Angehörige deutscher Fürstenhäuser machten sie populär. Deutschland mit seinen zahlreichen altehrwürdigen Dynastien war ein beliebter Heiratsmarkt für die regierenden Häuser Europas.

Dem deutschen Hochadel ging es natürlich besser als seinen Untertanen, aber im internationalen Vergleich waren viele deutsche Herrscherfamilien eher minderbemittelt. Manche kleinen Fürstentümer leben regelrecht von dem Goldregen, der sich ergoss, wenn sie einen Prinzen oder eine Prinzessin erfolgreich platzieren konnten.

Prominentes Beispiel ist Prinz Albert von Coburg, der Gemahl der englischen Königin Victoria. Zwar war seine Frau schon durch ihre deutsche Mutter mit dem Brauch vertraut, aber erst durch Albert wurde der Christbaum auch in der englischen Gesellschaft Mode.

Ein Stich aus den 1840er Jahren zeigt die königliche Familie vor einem großen Weihnachtsbaum. In den USA wurde das Motiv ebenfalls berühmt und immer wieder nachgedruckt. In der amerikanischen Version wurden Victoria und Albert allerdings ihrer königlichen Attribute beraubt, so dass aus den britischen Royals eine Familie der amerikanischen Oberschicht wurde.

Auf diese Weise haben deutsche Weihnachtsbräuche in England die deutschen Bräuche in den USA gefestigt. Wie gesagt, Bräuche wandern über Grenzen, sie wandeln und vermischen sich. Lassen wir die Tür also offen.

PS: Karl Follen musste Deutschland nicht wegen Kleinigkeiten verlassen. Er galt als geistiger Anstifter einer politischen Bluttat. In seinen politischen Schriften hatte er Gewalt bis hin zum Tyrannenmord gerechtfertigt. Seiner Geheimorganisation der „Unbedingten“ gehörte auch der Student Ludwig Karl Sand an, der 1819 den deutschbaltischen Schriftsteller August von Kotzebue mit einem Dolchstoß tötete. Der Anschlag erregte großen Aufsehen, viele Deutsche sympathisierten mit Sand und sahen in Kotzebue den Repräsentanten der reaktionären Monarchien. Obwohl Sand beteuerte, die Tat alleine geplant zu haben, galt Follen als der Kopf hinter dem Mord.