Bodenseeregion
Wie St. Gallen zum digitalen Vorbild der Bodenseeregion werden soll
St. Gallen / Lesedauer: 5 min
Seit Anfang 2007 ist Thomas Scheitlin das Stadtoberhaupt von St. Gallen . Der 65-Jährige hat sich mit seinem Stadtrat vorgenommen, die knapp 80 000 Einwohner zählende Kommune mit großer Konsequenz für das digitale Zeitalter zu öffnen. Mit Hendrik Groth und Andreas Müller hat der Stadtpräsident in seinem – papierlosen – Büro über Meilensteine und Hemmnisse des ambitionierten Projekts gesprochen und erklärt, weshalb er fürchtet, dass Europa den Anschluss verlieren könnte. Am Donnerstag spricht Scheitlin auch auf dem Bodensee Business Forum in Friedrichshafen.
Herr Scheitlin, St. Gallen soll DIE digitale Pilotkommune der Schweiz werden. Zu wenig haben Sie sich da nicht vorgenommen, oder?
Wir haben eine klare Strategie entwickelt und wollen im Bereich Smartcity auch im Interesse der Bevölkerung zu den führenden Städten gehören. Aber wir wollen uns genauso als Standort für Unternehmen empfehlen, die ihre digitalen Strategien und Produkte in einer realen Umgebung testen wollen.
Was stellen Sie sich da vor?
Ich habe zum Beispiel immer gesagt, dass ich es ermöglichen möchte, dass Firmen in bestimmten Stadtquartieren ihre selbstfahrenden Autos ausprobieren können. Wir wollen gern Testfeld sein. Aber es geht zu Beginn vor allem auch darum, die digitale Infrastruktur der Stadt aufzurüsten. Wir haben beim Volk einen großen Kredit abgeholt – 77,9 Millionen Franken waren das. Damit ziehen wir ein Glasfasernetz in alle Haushalte. Das wird noch in diesem Jahr fertig.
Mit schnellem Internet für alle ist es aber wohl noch nicht getan.
Das allein reicht natürlich nicht. Auf das Glasfasernetz bauen wir ein sogenanntes Low Range Network auf. So können wir dann mit strahlungsarmen kleinen Antennen Sensorentechnologie einführen. Gerade läuft ein Pilotprojekt mit Sensoren in Parkplätzen, um sie mit unserem Parkleitsystem zu koppeln. Wir testen Sensoren in Abfallbehältern, damit man den Abfallservice so steuern kann, dass er nur die vollen Container anfährt. Solche Dinge werden nur möglich, wenn wir über eine passende Infrastruktur verfügen.
Was sind in diesem großen Projekt die weiteren Meilensteine?
Bis 2020 wollen wir überall das Low Range Network ausgerollt haben. Dann ist es wichtig, die gesamte Verkehrsthematik anzugehen. Wir wollen kommunizierende Ampeln. Wir experimentieren im Moment schon mit Straßenbeleuchtungen, die sich nach Bedarf selbst ein- und ausschalten. Man muss in diesem Geschäft insgesamt viel versuchen und testen.
Ist Scheitern dabei erlaubt?
Das ist politisch natürlich immer schwierig. Wir sind in der Kommunikation deshalb vollkommen transparent, informieren immer über die Risiken und sagen klar: Es kann sein, dass wir Geld in den Sand setzen. Wir haben diese Erfahrung auch gemacht. Es gab ein großes Projekt zur Geothermie, das gescheitert ist. Da haben wir 30 Millionen Franken verloren. Wir haben zwar gute Voraussetzungen gefunden, aber wir haben ein Erdbeben ausgelöst und haben dann natürlich gesagt: Das war’s! Und die Bevölkerung hat das nicht nur verstanden, sondern diesen Prozess von Versuch und Irrtum sogar ausdrücklich gutgeheißen.
Sie sind auch im Internationalen Städtebund Bodensee aktiv. Wie weit sind Ihrer Meinung nach Ihre deutschen und österreichischen Nachbarn beim Thema Digitalisierung?
Alle sind auf der Suche nach Wegen, um die Digitalisierung sinnvoll zu nutzen. Ich werbe überall dafür, dass wir dabei zusammenarbeiten und Know-How austauschen. Ich sehe uns rund um den Bodensee über Landesgrenzen hinweg nicht als Konkurrenten. Die Bregenzer waren zum Beispiel schon hier und haben sich das Smartcity-Projekt angesehen. Unser Chief Digital Officer hat unsere Ideen weitervermittelt.
Sie haben einen städtischen Digitalbeauftragten? In Vollzeit?
Ja, als erste Stadt in der Schweiz überhaupt. Wenn dieses komplexe Thema nicht von jemandem mit voller Kraft und Überzeugung getrieben wird, dann wird man nicht ganz vorne dabei sein. Sonst heißt es immer: Jaja, wir machen das. Jaja, wir haben uns viel vorgenommen. Aber in Wirklichkeit geschieht fast gar nichts. Und das können wir uns als Stadtverwaltung beim Megathema Digitalisierung nicht leisten. Es darf nicht passieren, dass Wirtschaft, Bevölkerung und Verwaltung dabei vollkommen unterschiedliche Geschwindigkeiten haben.
Woran würden Sie das festmachen?
Der Einwohner dieser Stadt macht mit der Bank alles elektronisch, er kauft inzwischen viel online ein. Da können wir es ihm doch nicht zumuten, dass er bei uns seinen Formularen und Stempeln hinterherlaufen muss, wenn er zum Beispiel seine Adresse ändern will. Wir müssen auch als Verwaltung zeitgemäße Qualität und Professionalität bieten. Asiatische Städte zum Beispiel sind da viel weiter. Wenn wir hier zurückbleiben, ist das eindeutig ein Standortnachteil, wenn es um Ansiedlungen internationaler Firmen geht. Da müssen die Entscheider in Politik und Verwaltung ihre Hausaufgaben machen.
Stehen wir uns in Europa im globalen Standortwettbewerb selbst im Weg?
Europa hat ein Problem, wir sind zu stark reglementiert. Nehmen Sie das Beispiel autonomes Fahren: Die Firmen testen das vor allem in Singapur, in Hongkong, weil die Gesetzgebung ihnen einfach entgegenkommt. Bei uns ist das viel zu bürokratisch. Wir haben ein Rechtsumfeld, das oft ein flexibles Steuern und Umsteuern gerade im Bereich des Digitalen nicht zulässt. Aber wir müssen doch für diese dynamischen, kreativen Unternehmen aus dem Bereich interessant bleiben. Wir müssen uns für deren Bedürfnisse öffnen, sonst gelangen wir ins Hintertreffen.
Sie sind in diesem Jahr 65 geworden: Wie digital sind Sie eigentlich selbst?
Mir macht das Spaß. Ich arbeite inzwischen in den allermeisten Bereichen papierlos. Ich bin auf Instagram, Twitter, Facebook und mache das auch wirklich selbst – auch im hohen Alter (lacht). Aber: Ich bin natürlich User. Wenn etwas nicht funktioniert wie es soll, dann bin ich erst einmal verloren. Dann kommt jemand, bringt es in Ordnung und ich sage dann: Danke. Und dann geht es weiter.