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Verunsicherung

Was hält Tuttlingen von der Rocker-Sicherheit?

Baden-Württemberg / Lesedauer: 7 min

Die Silvesternacht von Köln hat auch die Menschen im Südwesten verängstigt – Für Sicherheit wollen nun Private und Rocker sorgen
Veröffentlicht:17.01.2016, 07:35

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Die Kölner Silvesternacht hat auch die Menschen in der Region verängstigt. Nun wollen Rocker in Tuttlingen für Sicherheit sorgen. Unser Kollege hat sich nach ihnen in der Stadt umgeschaut.

Bahnhöfe sind per se besondere Orte. Weil sie Menschen jeden Alters, verschiedener Hautfarben und Religionen, die Armen und die Reichen, die Gebildeten und die weniger Klugen wie ein Magnet anziehen. Um sie nach einem kurzen Zusammentreffen wieder in ihre sozialen Kontexte zu entlassen. Zum Problem kann das Aufeinandertreffen dieser heterogenen Masse werden. Das gilt auch für den Omnibusbahnhof Tuttlingen, der an diesem feuchten und schneeverhangenen Abend abweisender denn je wirkt. Und es gilt für die drei jungen Damen Laura Raletic (17), Vanessa Börstinghauser (21) und Sandra Faude (15), die auf die Frage nach Belästigungen in einem dreistimmigen Einklang antworten: „Ja klar, schon oft!“ Die von plumpen Anmachen („Hey, Beauty“) und unappetitlichen Annäherungsversuchen berichten, von Deutschen wie von Ausländern, verstärkt aber seit der Flüchtlingszunahme, so ihre Wahrnehmung. „Ich finde es daher gut, wenn nun Rocker für mehr Sicherheit in Tuttlingen sorgen“, sagt Laura Raletic.

Ein Staat im Staate

Rocker sorgen für Sicherheit? Ein Milieu, das immer wieder mit Prostitution und Gewalt in Verbindung gebracht wird? Das gerne nach eigenen Gesetzmäßigkeiten handelt und wie ein Staat im Staate funktioniert? Das nun für mehr Sicherheit im Staate Deutschland sorgen will? Was nach einem schlechten Witz oder deftiger Satire klingt, spiegelt Tuttlinger Gegenwart wieder.

Unter der Überschrift „Solidarität für Deutschland“ schreiben die Red Devils Tuttlingen, eine Untergruppe der Hells Angels, auf Facebook : „Es ist eine Schande, was in letzter Zeit auf Deutschlands Straßen los ist.“ Frauen und Kinder hätten Angst das Haus zu verlassen, sobald es dunkel werde. Die Polizei unternehme nichts gegen die Zustände. „Deshalb werden wir ab sofort verstärkt unterwegs sein. Solltet ihr euch bedroht vorkommen, sprecht uns an. Wir helfen ohne Wenn und Aber.“

Offenbar wollen sich viele von den Kuttenträgern helfen lassen, schon mehr als 1500-mal wurde der Beitrag im Internet geteilt, der Rottweiler Ableger der Biker hat sich der Aktion inzwischen angeschlossen. Die Initiative der Tuttlinger Devils ist allerdings nur die Spitze. Die Vorkommnisse von Köln, als in der Silvesternacht Hunderte Frauen von Gruppen umzingelt, sexuell bedrängt und bestohlen wurden, hat zu einem Stimmungswandel im Land geführt. Herrschte im Sommer noch eine euphorische, teils hysterische Willkommenskultur gegenüber den verängstigten Flüchtlingen, hat weite Teile der Bevölkerung die Angst nun selber gepackt.

Im Notfall zur Stelle

„Düsseldorf passt auf“, „Stuttgart passt auf“, „ Biberach passt auf“ – allerorts bilden sich digitale Bürgerwehren, die im Notfall zur Stelle sein würden oder an Wochenenden durch „Präsenz und Gewaltlosigkeit“ für Sicherheit sorgen wollen. In der Biberacher Gruppe heißt es auf Facebook: „Dass bei uns im Ländle nicht so etwas wie in Stuttgart oder Köln passiert, haben wir beschlossen uns in Biberach zu mobilisieren, getreu nach dem Motto: Agieren, statt reagieren!!!“ Der Gruppe haben sich schon mehr als 1700 Leute angeschlossen.

Es sind Menschen, denen offenbar das Vertrauen fehlt, der Staat alleine könne die Lage in den Griff bekommen. Entsprechend erschrocken und abwehrend fallen die Reaktionen von Polizei und Offiziellen aus. „Ich glaube nicht, dass man sich mit Rockergruppen an einen Tisch setzen sollte, um über das staatliche Gewaltmonopol zu reden“, sagte Andreas Schanz, der Sprecher des Innenministeriums. Ähnlich äußerte sich die Polizei Tuttlingen: „In einem Rechtsstaat ist und bleibt es ausschließlich Sache der Polizei, für Recht und Ordnung zu sorgen. Jeder Versuch, dies zu ändern, birgt die Gefahr von Willkür und Selbstjustiz in sich.“ Auch in Biberach verbittet man sich Hilfe: „Im Gegenteil, wir sind sehr gut aufgestellt“, so Oberbürgermeister Norbert Zeiler zur „Schwäbischen Zeitung“. Und das Polizeipräsidium Ulm: „Eine unkontrollierte Gruppe selbsternannter Ordnungshüter schafft keine Sicherheit, sondern erreicht nur das Gegenteil.“ Das sehen auch andere so.

Objektive Sicherheitslage gegen subjektives Sicherheitsgefühl

Der SPD-Landtagskandidat in Biberach, Stefan Gretzinger, schreibt auf seiner Facebook-Seite an die Adresse der Bürgerinitiative: „Ihr stellt Flüchtlinge – beziehungsweise jeden, von dem ihr vermutet, dass er Flüchtling ist – pauschal unter Generalverdacht, Vergewaltiger zu sein.“ Er sei „entsetzt“, dass auf privaten Seiten einzelne Unterstützer der Facebook-Gruppe von „Asys“ die Rede sei oder es würde gefordert: „Ofen an“. Die Vorgänge von Köln könnten nicht entschuldigt werden, so Gretzinger, doch für die Biberacher Facebook-Agitatoren sei der Schutz von Frauenrechten nur Vorwand, um mit „blankem, menschenfeindlichen Hass“ loszuziehen.

Ist dem so? Oder ist es vielleicht nur die halbe Wahrheit? Tatsache: Die objektive Sicherheitslage und das subjektive Sicherheitsgefühl klaffen auseinander, in Tuttlingen hat die Polizei im vergangenen Jahr einen einzelnen durch einen Flüchtling sexuell motivierten Fall registriert, der jedoch nicht über das Verbale hinausging, einen einzigen Fall dieser Art gab es auch in Biberach. Ähnlich klingen die Berichte von anderen Regionen, wo lediglich vermehrt Delikte wie Ladendiebstahl festgestellt wurden.

Tatsache sind aber auch die Vorfälle in Köln. Und Tatsache sind die zunehmenden Ängste der Bevölkerung.

Wer sich in Tuttlingen auf der Straße umhört oder Beiträge im Internet liest, bekommt auch nicht, von Ausnahmen abgesehen, den Eindruck, es handele sich hier um Verwirrung oder Ausländerhetze. Vielmehr melden sich zumeist normale Bürger zu Wort mit ihren Sorgen. Sie klingen oft wie jene drei junge Damen vom Tuttlinger Bahnhof, wie die 17-jährige Laura Raletic, die sagt: „Flüchtlinge in Not sollen gerne zu uns kommen. Aber die, die sich nicht benehmen wollen, sollen wieder gehen. Und was passiert, wenn immer mehr kommen?“

Mag es naiv sein, über Bürgerinitiativen im Netz die Sicherheit im Land erhöhen zu wollen. Mag es lächerlich sein, diese sich von Rockergruppen zu wünschen. Alles andere als naiv finden die Betroffenen allerdings, dass sie in ihren Ängsten gehört werden wollen. Eine Leserin der „Schwäbischen“ schreibt: „Besorgte Eltern und Freunde kann man nicht einfach so abtun.“ Man könne „beobachten, dass gerade junge Mädels von Männern öfters angesprochen werden, obwohl sie klar zu verstehen geben, dass sie keine ,Ansprache’ wünschen“.

„Druck politischer Korrektheit“

Dass diese Sorgen nun offener geäußert werden, ist für den renommierten Politikwissenschaftler und Parteienforscher Elmar Wiesendahl kein Zufall. „Die Veränderung der Stimmungslage im Land wundert mich nicht“, sagt Wiesendahl zur „Schwäbischen Zeitung“. „Ein bestimmtes Lager aus der politischen Mitte, das libertär-humanistisch denkt und voller Inbrunst hinter der Willkommenskultur steht, hat bisher die öffentliche Meinung bestimmt.“ Was zu einer Verengung der Debatte und auch zu einem „Schweigedruck“ geführt habe. Zu einem „Druck politischer Korrektheit“, manche Positionen nicht mehr offen ausformulieren zu dürfen. „Nun ist die Debatte gekippt“, sagt Wiesendahl. Es sei wieder Raum für Gegenreaktion und Meinungspluralität.

Wie sie sich neben der politischen Diskussion eben auch unter den Bürgern und im Internet zeigt, mal mehr, mal weniger an der Realität angedockt.

Die Realität an diesem Abend in Tuttlingen ist eine kalte. Es schneit und friert. Das Vereinsheim der Red Devils ist geschlossen, am Omnibusbahnhof und auf den Straßen sind die Kuttenträger nicht präsent. Kein Wetter, um die innere Sicherheit zu stützen. Die wird gewiss in den Kneipen der Stadt besprochen, verbunden mit der Frage: Schaffen wir das? Und wenn ja, wie?