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Warum die Bodenseeregion digital von Estland lernen kann

Friedrichshafen / Lesedauer: 4 min

Esten zeigen den Teilnehmern beim BBF wie digitale Verwaltung funktioniert
Veröffentlicht:20.09.2018, 19:31

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Der Abbau rechtlicher und technischer Hürden, einheitliche Regelungen über Staatsgrenzen hinweg, der Aufbau leistungsfähiger IT-Infrastruktur: Der Weg zur smarten Bodenseeregion ist lang. Aber es sei möglich, ihn zu gehen: Der Nachmittag des Bodensee Business Forums zeigt Möglichkeiten auf, die Region deutlich in Richtung Digitalisierung zu entwickeln. Und das Panel bringt eine weitere klare Erkenntnis: Es geht nicht nur um Technik. Insbesondere der Weg in den Köpfen ist lang. Ein Beispiel. Der mentale Wandel muss zu einer neuen Fehlerkultur führen. Denn: „Derzeit werden gescheiterte Unternehmer als Verlierer abgestempelt“, sagt Karlheinz Rüdisser, Landesstatthalter in Vorarlberg.

Dass es anders geht, beweisen seit 20 Jahren die Esten. In Europa gilt Estland als ein Vorreiter der digitalen Verwaltung. Der Botschafter Estlands, Mart Laanemäe, berichtet, dass sein Land in internationalen Rankings zu den führenden Ländern im sogenannten E-Government gehöre. Die 1,3 Millionen Esten können vom eigenen Computer aus tun, wofür Bürger vieler anderer Länder bei Behörden, Banken oder Firmen Schlange stehen müssen: Ein Klick ö̈ffnet das zentrale Internetportal eesti.ee mit geschütztem Zugang zu Hunderten digitalen Bürgerdiensten und Online-Dienstleistungen. Möglich macht das ein elektronischer Ausweis.

Nahezu alle Esten besitzen eine computerlesbare ID-Karte, die als Personalausweis dient und im Internet die Feststellung der Identität ermöglicht. Damit können auch digitale Signaturen geleistet werden, die in Estland rechtlich der normalen Unterschrift gleichgestellt sind. „Die Digitalisierung hat bereits viele Lebensbereiche wie Verwaltung, Bildung, Gesundheit und Recht durchdrungen“, berichtet Laanemäe .

Technische Hürden statt schnelle Lösungen

Begleitet wird die Infrastruktur von der entsprechenden Gesetzgebung. Darin wurde festgelegt, dass der Staat die Daten von Bürgern nur einmal erfassen darf und die für digitale Behördengänge notwendigen Informationen aus den Datenbanken kommen sollen. Bei sämtlichen Digitallösungen behalten die Bürger die Hoheit über ihre Daten. Das System hält jede Abfrage fest und garantiert Transparenz – unerlaubte Dateneinsicht wird juristisch geahndet.

Immer wieder staune er etwa über die technischen Hürden beim Fahrkartenkauf in Deutschland: „Ich habe fünf Accounts, weil ich mich über Benutzernamen und Passwörter einloggen muss“, berichtet Laanemäe, „bei uns reicht der Name.“

„In der erweiterten Bodenseeregion ist das Potenzial für eine ähnliche Entwicklung wie in Estland vorhanden“, glaubt Malgorzata Wiklinska, Leiterin Ecosystem & Partnerschaften beim Technologiekonzern ZF in Friedrichshafen. Aber: „Noch fehlen technische Voraussetzungen, die beispielsweise das autonome Fahren möglich machen.“ Von der dazu notwendigen 5G-Technologie könne man hier nur träumen. Wie hatte am Morgen ein Digitalisierungsexperte aus Liechtenstein auf die sehr unterschiedlichen Herangehensweisen in Europa gesagt: „Der französische Präsident Emmanuel Macron hat jüngst 1,5 Milliarden Euro für künstliche Intelligenz bereitgestellt, während Bundesverkehrminister Andreas Scheuer eine App für Funklöcher ankündigt.“

Unterschiedliches Tempo rund um den See

Ähnliche Erfahrungen hat jeder der Podiumsteilnehmer gemacht: Für Thomas Scheitlin, den Stadtpräsidenten von St. Gallen in der Schweiz wären schon nationale statt kommunale Vorgaben ein Fortschritt auf dem Weg zur vernetzten Region: „Noch besser wären internationale Regelungen.“ Denn Scheitlin bedauert, dass man in Baden-Württemberg nach Stuttgart, in Vorarlberg nach Wien und in der Schweiz nach Bern schaue: „Und regionale Lösungen nur selten angestrebt werden.“

Doch was ist zu tun? Der Moderator des Panels, Andreas Müller, drängt als stellvertretender Chefredakteur der „Schwäbischen Zeitung“ auf konkrete Antworten. Ulrike Hudelmaier, Geschäftsführerin des Gründer- und Technologiezentrums (TFU) der Region Ulm/Neu-Ulm, sieht das wichtigste Potenzial in den Köpfen der Menschen: „Wir müssen die Leute so weit bringen, dass sie Digitalisierung können und wollen, unabhängig von ihrem Alter.“ Die größte Gefahr lauere in Selbstzufriedenheit, „weil es uns so gut geht.“ Mit Begeisterung fürs Neue seien große Fortschritte zu erzielen. Der Vorarlberger Landesstatthalter Rüdisser warnt vor unterschiedlichen Geschwindigkeiten rund um den See und will unsinnige Regelungen wie die Datenschutzgrundverordnung am liebsten abschaffen. Dann werde die Region ihre Chancen nutzen. Und die ZF-Frau Wiklinska? „Einfach machen“, rät die Expertin, die derzeit im Silicon Valley arbeitet, „es muss nicht immer schwierig sein.“