StartseiteRegionalBaden-WürttembergVor dem Flüchtlingsgipfel: Wie die Landesregierung auf die Tat in Illerkirchberg reagiert

Flüchtlingsgipfel

Vor dem Flüchtlingsgipfel: Wie die Landesregierung auf die Tat in Illerkirchberg reagiert

Stuttgart / Lesedauer: 4 min

Am Mittwoch hat der Ministerpräsident zum Flüchtlingsgipfel eingeladen – Bluttat von Illerkirchberg soll humanitäre Anstrengungen im Südwesten nicht überschatten
Veröffentlicht:06.12.2022, 19:22

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Die Lage ist ohnehin angespannt. Laut Justizministerium sind dieses Jahr 170.000 Menschen nach Baden-Württemberg geflüchtet – davon 142.000 aus der Ukraine. Mehr als im Jahr der letzten Flüchtlingskrise 2015. Die Bluttat von Illerkirchberg könnte nun dazu führen, dass die Aufnahmebereitschaft für Flüchtlinge in der Bevölkerung sinkt.

Am Tag vor einem Flüchtlingsgipfel, zu dem er nach Stuttgart eingeladen hat, warnte Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) indes vor voreiligen Schlüssen.

Palmer äußert sich

„Wer als Gast zum Mörder wird, schmälert die Chancen anderer, als Gast aufgenommen zu werden“, schrieb Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer , dessen Grünen-Mitgliedschaft aktuell ruht, am Dienstag auf Facebook. „So geschah es auch in Deutschland nach den Gewalttaten von Flüchtlingen im Jahr 2016.“

Noch gilt ein 27-jähriger Asylbewerber aus Eritrea lediglich als tatverdächtig, ein Mädchen in Illerkirchberg am Montag mit einem Messer getötet und ein weiteres schwer verletzt zu haben. Gewaltverbrechen, begangen von Flüchtlingen, haben in den vergangenen Jahren indes immer wieder zu Diskussionen geführt.

Einige andere Beispiele

Palmer erinnert an den Fall einer jungen Frau in Freiburg, die im Oktober 2016 von einem afghanischen Flüchtling vergewaltigt und ermordet wurde. Oder auch an die Messerattacken mit drei Toten, begangen von einem somalischen Flüchtling in Würzburg im vergangenen Jahr – dem zwei psychologische Gutachten paranoide Schizophrenie bescheinigten.

Derlei Taten erschütterten das Gastrecht, erklärt Palmer mit Bezug auf den Moralphilosophen Immanuel Kant. „Ein solch schwerer Missbrauch des Gastrechts stellt nämlich das Gastrecht selbst in Frage, weil die Gastgeber zwangsläufig darüber nachdenken, ob sie das Risiko, Gäste aufzunehmen, weiter tragen wollen.“

Aktueller Stand bei Kriminalität

Hat die Kriminalität durch Zuwanderer nach 2015 zugenommen? Ja, aber – sagen Kriminologen. Statistiken erzeugten Irrtümer, hatte etwa Kriminalwissenschaftler Christian Pfeiffer gesagt. So weist etwa der Sicherheitsbericht der Polizei in Baden-Württemberg aus, wie viele Tatverdächtige Asylbewerber waren, das Bundeskriminalamt tut dies aber nicht.

Ob die Tatverdächtigen denn auch verurteilt wurden, ist unklar, weil die Strafverfolgungsstatistik der Südwest-Justiz Asylbewerber nicht als eigene Kategorie führt. Wissenschaftliche Studien kommen zudem zur Erkenntnis, dass Ausländer häufiger angezeigt werden als Deutsche.

Beispiel Messerattacken: Zwischen 2017 und 2021 ist ihre Zahl laut Polizei im Südwesten von 1782 auf 1562 zurückgegangen. Die Zahl der Asylbewerber als Tatverdächtige ist von 512 auf 331 im gleichen Zeitraum gesunken. Ihr Anteil am Geschehen sank also von 28,7 auf 21,1 Prozent. Wie viele von ihnen verurteilt wurden, sagt die Strafverfolgungsstatistik nicht. Trotz des Rückgangs hat die grün-schwarze Landesregierung im September den Kommunen die Möglichkeit eingeräumt, an besonders heiklen Orten waffenfreie Zonen einzurichten.

AfD sieht „Kontrollverlust“

Die Sorgen der Bevölkerung nach Illerkirchberg nutzt die AfD allerdings prompt für einen Angriff auf die Regierung. Der scheidende Fraktionschef im Landtag, Bernd Gögel, sprach von „Kontrollverlust“, den er beim Flüchtlingsgipfel thematisieren werde. Zudem lädt Kretschmann am Mittwoch Kommunalverbände, Wirtschaft, Gewerkschaften, Kirchen, Sozialverbände und Zivilgesellschaft mit dem Ziel ein, „die Verantwortungsgemeinschaft zwischen allen Beteiligten zu stärken“, wie er sagt.

„Viele Kommunen sind an der Kapazitätsgrenze“, bestätigte er. „Das müssen wir einfach gemeinsam besprechen. Jeder muss die anderen hören und mit denen reden.“ Er mahnte zudem zur Besonnenheit. „Ich möchte dringend darum bitten, keine Zusammenhänge herzustellen, die nicht bestehen“, sagte er am Dienstag in Stuttgart. Die Tat sei nicht aufgeklärt, das Motiv unklar.

Kommunen sind überlastet

Die Kommunen hoffen derweil vor allem auf ein klares Signal Richtung Öffentlichkeit, wie angespannt die Lage bereits ist, betonte Gemeindetagspräsident Steffen Jäger. „Wir müssen das Bewusstsein in der Bevölkerung schaffen, dass wir Entscheidungen treffen müssen, die uns alle belasten werden“, etwa aus einer Schulsporthalle eine Notunterkunft zu machen. Niemand tue dies leichtfertig. Jäger forderte: „Diejenigen, die das vor Ort entscheiden, dürfen dafür nicht noch attackiert werden.“

Zudem forderte Jäger ein Umdenken: „Die Frage ist, wie wir den zu uns flüchtenden Menschen in einem überlasteten System gerecht werden können.“ Das gehe nur, wenn 100-Prozent-Ansprüche mitunter heruntergeschraubt und pragmatische Hilfsangebote gemacht würden – Kindern etwa auch mal eine Betreuung statt Unterricht geboten werde. „Wenn es uns dann noch gelänge, in Richtung Bundesregierung zu signalisieren, dass wir eine bessere europäische Verteilung der Menschen und Harmonisierung der sozialen Standards brauchen, wäre das ebenfalls eine wichtige Botschaft.“