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Meerrettich

Ein Jahr nach dem Brand in Ratzenried: Ohnmacht der Herzen

Ratzenried / Lesedauer: 10 min

Beim Brand eines Allgäuer Hofs sind vor einem Jahr zwei Kinder gestorben – Seitdem suchen die Eltern einen Weg zurück ins Leben
Veröffentlicht:06.10.2012, 10:35

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Wilder Meerrettich, Brennnesseln, halbhohe Gräser. Die Natur ist schnell, wenn es um das Verwischen von Spuren geht. Sie unterscheidet nicht zwischen einer aufgerissenen Ackerfurche und dem verkohlten Boden nach einem verheerenden Großbrand. Vor einem Jahr lagen dort, wo heute Wildkraut wuchert, Schutt und glühende Balken. Ein Feuer hatte in dem kleinen Weiler Berfallen bei Ratzenried im Allgäu ein 120 Jahre altes Bauernhaus völlig zerstört. Die Trümmer sind weggeräumt, schwere Maschinen haben die Fundamente des Hauses aus der Erde gezogen. Jetzt bedeckt jedes kleine Pflänzchen die in den Boden gerissenen Wunden ein wenig mehr.

Die Seele ist nicht so schnell. Ihre Wunden heilen unendlich langsamer. Herbert und Petra Burger haben bei dem Unglück in der Nacht vom 7. auf den 8. Oktober 2011 zwei ihrer drei Kinder verloren: den elfjährigen Sohn Tobias und die vierjährige Tochter Miriam. Seitdem versuchen Herbert und Petra Burger und ihre sechs Jahre alte Tochter Tamara, die Ohnmacht ihrer Herzen zu überwinden. Der Schriftsteller Erich Kästner wählte diese Worte für einen Schmerz, der so groß ist, dass das Herz ihn kaum aushält.

Wenn die Trauer kommt

Wenn die Trauer Herbert Burger wieder einmal zu überwältigen droht, packt er an, organisiert, macht. Der 45-Jährige ist ein Schaffer. Doch wenige Tage nach dem Feuer hat er eine Pflicht, an der er fast zerbricht: Er muss sich um die Bestattung seiner Kinder kümmern. Allein. Seine Ehefrau ist im Gegensatz zu ihm viel schwerer verletzt, sie ringt im Krankenhaus um ihr Leben. Einige Tage später sitzt er am Klinikbett, bangt und liest ihr vor. Den Fortsetzungsroman „Tante Inge haut ab“ aus der Zeitschrift Schwäbischer Bauer. Und muss entscheiden, dass sie wegen ihrer schweren Rauchgasvergiftung ins künstliche Koma versetzt wird.

„Sie konnte es damals kaum verschnaufen“, sagt Herbert Burger in breitem Allgäuerisch. „Sie wollte reden, aber es ging nicht. Ich wusst‘ net ein noch aus.“ Sein Blick senkt sich, er lässt die Schultern hängen. Der kräftige Mann im Blaumann und im karierten Arbeitshemd sieht plötzlich müde aus. Petra Burger ergreift die Hand ihres Mannes. „Wir haben bis dahin immer alles gemeinsam entschieden“, erzählt die 40-Jährige. Bis dahin, das war das Leben in Berfallen: Neben seiner Arbeit in einer Sägerei bewirtschaftete Herbert Burger mit seiner Frau den Hof seines Vaters. 35 Milchkühe, Wiesen.

„Es muss weitergehen“

Die eine Nacht änderte alles. „Manchmal denke ich, ich müsste auf unseren Herrgott so böse, so unglaublich böse sein“, sagt Petra Burger. Ihre weiche Stimme schwingt. „Aber er hat ja auch gemacht, dass mein Mann und Tamara noch da sind.“ Kein Tag vergehe ohne Gedanken an Tobias und Miriam. „Immer Wehmut, ich denke, jetzt hätten sie das gemacht und dies. Wenn Tamara nicht wäre, würde ich manchmal nicht aufstehen.“ Petra Burger sucht den Blick ihres Mannes, Hilfe suchend. Er reißt sich zusammen. „Ich will und kann Tamara die Kindheit nicht nehmen. Es muss weitergehen“, sagt er.

Es sind kleine Dinge, die Herbert und Petra Burger bis ins Mark treffen, die zeigen, wie langsam die Seele heilt. Wenn Herbert Burger mal wieder für fünf Personen Brot kauft. Oder wenn es keine Streitereien beim Frühstück gibt. „Keine Schreierei, wer zuerst die Milch kriegt“, sagt Herbert Burger. „Früher war ich sicher, dass Tobias und Miri samstags mit mir zum Landhandel kommen. Jetzt fahr ich allein.“ Er sitzt am Küchentisch in der Gemeindewohnung in Christazhofen, in der die Burgers seit dem Unglück zur Miete wohnen. Es sei alles so anders, so leise und leer, erzählt Petra Burger. „Aber“, sagt sie bestimmt, „aber wir machen alles, damit Tamara so weit wie möglich normal aufwächst.“

Fragen nach den Geschwistern

Seit den Ferien geht die Sechsjährige in die Schule und beginnt, mehr und mehr nach ihrem Bruder und ihrer Schwester zu fragen. Beim Abschluss-Gottesdienst im Kindergarten vor den Sommerferien haben andere Kinder ihre älteren Geschwister dabei. „Tamara hat uns gefragt, ob Tobias und Miriam auch mitgegangen wären“, sagt Petra Burger. Tamara sammelt Filly-Pferdchen, sie heißen Sunny, Piltur oder Halim.

Und immer wenn sie eine Figur doppelt hat, bringt sie ein Pferdchen auf den Friedhof zum Grab ihrer Geschwister. „Für mich ist die Gedenkstätte in Berfallen aber viel wichtiger“, erzählt Petra Burger, „dort musste ich Abschied nehmen in der Nacht.“

Die Nacht, über die Petra Burger nicht spricht. Sie wisse auch gar nicht mehr genau, wie sie sich und Tamara aus dem ersten Stock gerettet habe, während ihr Mann verzweifelt versuchte, die Feuerwehr zu alarmieren. Ein Kurzschluss in einer Deckenlampe im Erdgeschoss des alten Hofs hatte den Brand ausgelöst. Das Feuer breitete sich binnen kurzer Zeit im Wohnhaus und in der angebauten Scheune aus. „Ich muss aufpassen, dass mich diese Bilder nicht immer wieder einholen“, sagt Petra Burger. Bei Herbert Burger klingt das so: „Ich darf nicht groß nachsinnen, dann komme ich ins Grübeln – und das Rattern hört nicht mehr auf.“

Die Nacht des Brandes hat viele erschüttert

Die Schicksalsnacht, von der an im Leben der Burgers nichts mehr ist, wie es vorher war, hat viele Menschen erschüttert. Menschen aus Ratzenried und weit jenseits der Grenzen des Allgäus. Nach einem Spendenaufruf der Gemeinde kommen fast 400 000 Euro zusammen. Geld, das die erste Not lindert, das für einen Neuanfang bestimmt ist, für das Herbert und Petra Burger zutiefst dankbar sind – das aber auch Schwierigkeiten auslöst, mit denen keiner gerechnet und die vor allem keiner gewollt hat.

Die Feuerwehr hat Josef Köberle, den Bürgermeister der Gemeinde Argenbühl, noch in der Brandnacht nach Berfallen gerufen. „Als ich kam, stand alles lichterloh in Flammen – und es wurde sehr schnell klar, dass Menschen in Gefahr waren“, erzählt Köberle. Machtlos sei er gewesen, nichts habe er tun können. „So etwas hatte ich bis dahin nicht erlebt“, sagt der 57-Jährige. „Klar war, dass man schnell helfen muss – und ich sah mich da als Bürgermeister in der Pflicht.“

Noch am Brandmorgen hat Josef Köberle zwei Konten eingerichtet und öffentlich zu Spenden aufgerufen. In den folgenden Tagen und Wochen sichten Freiwillige Sachspenden, Möbel, Kleidung, Spielzeug. Das Bauamt beginnt, eine Mietwohnung in einem Haus der Gemeinde einzurichten. „Sehr schnell lief eine Hilfsaktion an, die ich kaum allein mehr bewältigen konnte“, erzählt Köberle. Bis lange nach Weihnachten gehen auf den Konten der Gemeinde Gelder ein. Mehr als 3000 Menschen spenden Beträge zwischen fünf und 20000 Euro.

Pflichten des Treuhänders

Weil Josef Köberle in seiner Funktion als Bürgermeister von Argenbühl zu Spenden aufgerufen hat, fungierte er automatisch als Treuhänder. „Aus dem offiziellen Aufruf erwachsen rechtliche Konsequenzen. Er hat die Pflicht, die Mittel im Sinne der Spender einzusetzen, um die Notlage abzuwenden. Wir müssen das kontrollieren. Dazu sind wir verpflichtet“, erklärt Franz Hirth vom Landratsamt Ravensburg. Ein Treuhänder habe auch darauf zu achten, dass zunächst die Gelder aus der Versicherung für den Wiederaufbau verwendet werden und die Spender nicht für Kosten aufkommen, die anderweitig gedeckt sind.

Josef Köberle nimmt die Verantwortung an, er macht Vorschläge, Pläne, stellt Fragen: Hat die Landwirtschaft der Burgers eine Perspektive? Könnte die Vermietung von Ferienwohnungen eine Alternative sein? Der Bürgermeister gibt Ratschläge – und überfordert das Ehepaar Burger. Mitten in der Trauerphase ist es für die Eheleute noch viel zu früh, um solch weitreichende Entscheidungen zu treffen. Im Rückblick erkennt das auch Josef Köberle. „Ich habe versucht, offen und konstruktiv an die Sache heranzugehen, um Burgers eine Perspektive zu geben – aber das war alles viel zu schnell“, sagt er. Auch der Bürgermeister sieht sich in dieser Zeit unter Druck. „An mich ist man herangetreten und hat gesagt, achte darauf, dass das Geld sinnvoll eingesetzt wird.“ Und sinnvoll heißt für Josef Köberle in erster Linie wirtschaftlich.

Eine Kategorie, die für Herbert Burger in diesen Tagen voller Traurigkeit schwer zu begreifen ist. Was zählt Wirtschaftlichkeit, wenn er sich danach sehnt, mit seiner Familie nach Berfallen zurückzukehren? Auf den elterlichen Hof zu seiner kleinen Landwirtschaft, um nach dem Schicksalsschlag wieder Kraft zum Leben zu finden? „Mein Mann ist mit Leib und Seele Bauer“, sagt Petra Burger. Nein, man könne ihn nicht verpflanzen, fügt ihr Ehemann an. „Ich bin ein Landmensch, ich gehöre da hin. Ins Grüne auf den Hof“, sagt Herbert Burger. Die Hilfestellung von Josef Köberle klingt in den Ohren von Herbert Burger wie Bevormundung. Wie Ratschläge, die einem mehr und mehr die Möglichkeit nehmen, eigenständig über das zukünftige Leben zu entscheiden.

„Das hat mich getroffen“

In Ratzenried entsteht Gerede. Fragen kommen auf: Warum erreichen die Spenden nicht die Familie Burger? Warum halten Bürgermeister und Gemeinderat die Gelder zurück? Wenn sich Josef Köberle an diese Wochen erinnert, verlässt ihn die ruhige Sachlichkeit des in sich ruhenden Schultes für wenige Augenblicke. „Das war hart für mich, ich bin rumgerannt, habe gemacht und getan“, sagt er, „das hat mich getroffen, und ich war empfindlich.“ Und aus der Emotion heraus habe er Dinge gesagt, die ihm heute leid tun. Zu präsent auch noch die Erinnerung an die Zeit kurz nach dem Unglück: Die polizeilichen Ermittlungen hatten ergeben, dass Herbert Burger in der Brandnacht versuchte, einen seit Jahren inaktiven Feuermelder am Rathaus von Ratzenried zu betätigen, bevor er den Notruf wenige Minuten später bei einem Bekannten absetzen konnte. Zeitungen aus allen Teilen Deutschlands hatten Josef Köberle daraufhin gefragt, warum die Gemeinde den Melder nicht schon lange abgebaut habe, ob es etwas geändert hätte, wenn Herbert Burger nicht zuerst zum Rathaus gefahren wäre. Fragen, die nicht weiterhelfen, die zermürben, Wunden neu aufreißen.

„Das Tragische an der Geschichte in diesen Wochen war, dass sich die Erlebnisebenen vollkommen verschoben haben“, sagt Rupert Willburger. Er ist der katholische Pfarrer, der gemeinsam mit der evangelischen Pfarrerin Friederike Hönig die Familie unterstützt. „Zunächst ging es darum, die menschliche Tragödie zu verarbeiten, und Monate später diskutiert man nur noch über das Materielle.“ Auf Initiative Willburgers setzen sich Herbert und Petra Burger mit Josef Köberle und Vertretern des Landratsamts zusammen. Auch die beiden Pfarrer sind dabei. „Dieser runde Tisch hat klargemacht, dass alle Spenden vollständig den Burgers zufließen“, sagt Willburger. „Sie können entscheiden, wie ihr künftiges Leben aussieht.“

Bürgermeister unterstützt Pläne

Und das nimmt immer konkretere Formen an: Mit dem Geld der Brandversicherung will Herbert Burger in Berfallen in den kommenden Wochen eine Halle für seine Maschinen bauen. „Das soll der Anfang sein“, erzählt Petra Burger. Im Januar sei die Planung für das Wohnhaus an der Reihe. Von März an soll es gebaut werden, wenige Meter neben der neuen Halle und finanziert durch die Spenden. „Mich würde es riesig freuen, wenn die Familie wieder nach Berfallen geht“, sagt Josef Köberle. „Bei der Realisierung des Eigenheims können sie mit meiner vollen Unterstützung rechnen.“ Und mit allen eingegangenen Geldern.

Vor wenigen Tagen hat Herbert Burger mit einem kleinen Bagger einen Graben ausgehoben, um den Wasseranschluss für die Maschinenhalle vorzubereiten. Die Natur wird auch diese Wunde in den Wiesen in Berfallen schnell schließen. Wenn irgendwann das neue Haus steht, werden nicht einmal mehr Narben von den Baggerfurchen zu sehen sein.