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Kinderheim

Schläge, Qualen, Missbrauch: Erschreckende Studie über Kinderheime

Stuttgart / Lesedauer: 4 min

Forscher präsentieren Studie – „Vieles war bekannt, hatte aber keine Konsequenzen“
Veröffentlicht:17.10.2018, 19:57

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Sie mussten ihr Erbrochenes essen, wurden stundenlang in Schränken eingesperrt oder wegen Bettnässens vor allen anderen bloßgestellt: In den über 530 Kinderheimen Baden-Württembergs gab es zwischen 1949 und 1975 flächendeckende Missstände. Gewalt und zum Teil Missbrauch waren weit verbreitet. Eine Kontrolle durch das Land fand kaum statt. Das ist das Ergebnis eines Forschungsprojektes, dessen Ergebnisse am Mittwoch in Stuttgart vorgestellt wurden.

Das Landesarchiv hat sich seit 2012 im Auftrag und mit Geldern der Landesregierung mit dem Thema beschäftigt. In dieser Zeit wandten sich rund 1800 Menschen an die Wissenschaftler. Sie erbaten Unterstützung dabei, ihre eigene Lebensgeschichte zu recherchieren.

Zeit von 1949 bis 1975 im Fokus

Der Anlass: Die Bundesregierung hatte einen Fonds für ehemalige Heimkinder eingerichtet. Diese konnten dort bis 2014 eine Entschädigung beantragen. Viele Opfer suchten beim Landesarchiv Hilfe, um Belege für ihre Gewalterfahrungen in den Heimen zu finden. In 95 Prozent aller Fälle gelang es den Forschern, entsprechende Nachweise zu finden. Sei suchten dafür in Akten bei Jugendämtern, Gerichten und Heimen.

In der Zeit von 1949 bis 1975 lebten in Deutschland etwa 700 000 bis 800 000 Kinder und Jugendliche in Heimen. Wie viele davon sich in Baden-Württemberg befanden, ist kaum noch genau zu ermitteln. Denn lange existierte nicht einmal eine Liste aller Heime. Und das, obwohl sie im Auftrag des Staates arbeiteten. Eine geregelte Aufsicht über das, was hinter den Heimtüren passierte, konnte es also erst recht nicht geben. Außerdem fand vieles keinen Eingang in irgendwelche Akten. Betroffene melden sich aus Scham nicht oder sind bereits verstorben.

1800 Fälle bearbeitet

Daher konnten die Historiker des Landesarchivs bislang mit ihren Mitteln keinen kompletten Überblick darüber liefern, was in den Heimen des Landes geschah. Sie werteten aber jene 1800 Fälle genau aus, die Betroffene an sie herantrugen.

930 Männer und 837 Frauen meldeten sich. Die meisten von ihnen wurden zwischen 1940 und 1970 geboren. Rund 40 Prozent von ihnen verbrachte mehr als zehn Jahre in einem jener 532 Heime, die es nach jetzigem Stand damals im Südwesten gab. Die Kirchen betrieben 230 Heime, viele wurden aber auch von Hebammen, Familien oder Erzieherinnen geleitet.

Zum Teil ist sehr gut dokumentiert, was Betreuer den Kindern antaten. „Niemand kann sagen, man habe es nicht wissen können“, sagte die Historikerin Nora Wohlfarth am Mittwoch. In vielen Akten seien die Übergriffe dokumentiert. Insofern hält die Wissenschaftlerin es auch für falsch, die Schuld nur bei den einzelnen Erziehern zu suchen. Zum Teil seien Züchtigungen als legitimes Erziehungsmittel eingesetzt worden. Das entsprach dem Zeitgeist und wurde weitgehend akzeptiert. Grenzübertritte seien vertuscht worden. „Den Kindern stand ein System gegenüber, dass sehr mächtig war. Vieles war bekannt, aber hatte keine Konsequenzen“, sagte Wohlfahrt.

Mindestens 97 Missbrauchsopfer

Die Forscher stießen sogar auf Fälle, in denen Betreuer wegen sexueller Übergriffe auf Kinder verurteilt wurden – doch die Heime stellten sie später wieder ein. Mindestens 97 ehemalige Heimkinder unter den 1800 Fällen wurden Opfer sexualisierter Gewalt. Genaue, landesweite Zahlen dazu sind auch hier wegen fehlender Akten nicht zu ermitteln. Selbst wenn Fälle bekannt wurden, wertete niemand Vorkommnisse landesweit aus. Die Experten gehen von einer hohen Dunkelziffer aus.

Um wenigstens schätzen zu können, wie groß das Ausmaß der Übergriffe landesweit war, untersuchten die Wissenschaftler 400 Fälle noch einmal gesondert. Jeder fünfte Betroffene ist noch heute schwer traumatisiert von den Erfahrungen im Heim. 41 Prozent waren Opfer von massiver Gewalt oder gar Missbrauch. Jungen waren doppelt so häufig betroffen wie Mädchen.

„Der Staat hat damals in seiner Schutzfunktion versagt. Dafür entschuldige ich mich im Namen der Landesregierung bei allen Betroffenen“, sagte Landessozialminister Manfred Lucha (Grüne) bei der Präsentation der Studienergebnisse. Man könne das Leid nicht ungeschehen machen, aber wenigstens dazu beitragen, dass die Vergangenheit aufgeklärt werde. Daraus müsse man dann die richtigen Schlüsse ziehen.

Aufklärung geht weiter

„Gerade am Beispiel des Missbrauchsfalls von Staufen sehen wir ja, dass wir immer weiter daran arbeiten müssen, Kinder zu schützen“, sagte Lucha. In Staufen bei Freiburg war ein Junge von Mutter und deren Lebensgefährten missbraucht worden. Die Behörden hatten die Familie zwar im Blick, zogen aber nicht die richtigen Schlüsse.

Die Arbeit der Forschungsstelle geht weiter. Ehemalige Heimkinder können sich nach wie vor an sie wenden. Die Historiker untersuchen in den kommenden Jahren, wie es in Heimen für psychisch Kranke und Behinderte zuging. Das Land hat bislang rund sechzehn Millionen Euro für Entschädigung und Beratung von Heimkindern ausgegeben.