Wie schnell ein Notarzt oder Rettungswagen nach einem Notruf vor Ort eintrifft, kann über Leben und Tod entscheiden. Wie lange das in Baden-Württemberg dauert, hat der SWR in Kooperation mit der „Schwäbischen Zeitung“ analysiert. Dabei wurden die Daten einer im Jahr 2016 veröffentlichten Studie aktualisiert. Die Frage: Wie häufig konnte die gesetzlich vorgegebene Hilfsfrist von 15 Minuten eingehalten werden? Das Ergebnis ist beunruhigend.
Was ist das Ergebnis der neuen Analyse von SWR und „Schwäbischer Zeitung“?
Die Datenanalyse hat gezeigt, dass die Versorgung vieler Gemeinden immer noch nicht ausreichend gewährleistet ist. Im Vergleich zum Vorjahr haben sich die Einsatzzeiten vielerorts sogar verschlechtert.
So braucht ein Rettungswagen oft zu lange, bis er am Einsatzort ist. Die gesetzlich vorgegebene Frist von maximal 15 Minuten wird häufig überschritten. In Baden-Württemberg sind 762 Gemeinden davon betroffen. Dort ist zwar der Notarzt häufig vor dem Rettungswagen vor Ort, was allerdings oft nicht genügt. Zusätzlich schwankt die Einhaltung der Hilfsfristen je nach Region stark.
Wie kommen diese Ergebnisse zustande?
Datenexperten haben erfasst, wie lange ein Rettungswagen benötigt, bis er am Einsatzort ankommt. Dafür hat das Rechercheteam mehr als ein Jahr lang Daten aus Anfragen an Krankenhäusern, Aufsichtsbehörden und offiziellen Statistiken von Rettungsdiensten gesammelt. Unter Berücksichtigung der Alarmierungs- und Ausrückzeit wurden die Fahrzeitwerte ausgewertet. So konnte überprüft werden, wann die Rettungswagen an den jeweiligen Notfallorten in Baden-Württemberg eingetroffen sind und ob sie die vorgeschriebene Hilfsfrist einhalten konnte. Diese Eintreffzeiten wurden für rund 3400 Orte und ausschließlich für Baden-Württemberg erhoben. Sie stammen vom SWR und wurden der „ Schwäbischen Zeitung “ zur Verfügung gestellt.
Was bedeutet Hilfsfrist und welche Vorgaben gelten in Baden-Württemberg und Bayern ?
Die Hilfsfrist ist die Zeit, in der ein Patient im Notfall qualifizierte Hilfe bekommt. Wie diese Frist definiert wird, ist von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich und durch ein entsprechendes Gesetz definiert. In Baden-Württemberg gilt: „Die Hilfsfrist soll aus notfallmedizinischen Gründen möglichst nicht mehr als zehn, höchstens 15 Minuten betragen“ (gesetzliche Hilfsfrist). Gemessen wird die Zeit, die zwischen Eingang des Notrufs und Eintreffen der Helfer vor Ort vergeht. Ziel des Landes ist es, dass dieser Wert in 95 Prozent der Fälle erreicht wird. In Bayern sollen Retter in zwölf Minuten am Einsatzort sein, dort zählt aber die Zeit erst vom Ausrücken der Fahrzeuge an. Diese Vorgabe soll bei 80 Prozent der Einsätze erreicht werden. Das gelingt laut Innenministerium in München sogar in 90 Prozent.
Was heißt „doppelte Hilfsfrist“?
Das ist eine Besonderheit in Baden-Württemberg. Hier muss die Hilfsfrist sowohl vom Rettungswagen als auch vom Notarzt eingehalten werden. Das sorgt seit Jahren für Debatten, weil dadurch die Fristen seltener eingehalten werden können.
Was empfehlen Mediziner (medizinische Hilfsfrist)?
Innerhalb von zehn Minuten sollten die ersten qualifizierten Retter beim Patienten sein. So steigen aus ärztlicher Sicht die Überlebenschancen stark an. Das betont beispielsweise die Arbeitsgemeinschaft Südwestdeutscher Notärzte immer wieder. Deren Vertreter in Südwürttemberg, der Friedrichshafener Rudolf Schiele, lobte aber zuletzt im Gespräch die Ansätze der Landesregierung für Verbesserungen. Grundsätzlich sei das Land auf einem guten Weg.
Ist die Einhaltung der Hilfsfrist das einzig Entscheidende im Notfall?
Nein, sie ist lediglich eines von mehreren wichtigen Kriterien. Gerade bei häufigen, lebensbedrohlichen Notfällen kommt es auch darauf an, nicht das nächste, sondern das richtige Krankenhaus zu erreichen. Wer zum Beispiel einen Schlaganfall hat, muss in ein darauf spezialisiertes Zentrum. Davon gibt es 49 in Baden-Württemberg. Ähnliches gilt für Menschen, die einen Herzinfarkt erleiden. Mediziner sprechen von der „Golden Hour“, der „Goldenen Stunde“, innerhalb derer Patienten mit diesen und einigen anderen Erkrankungen in einer Spezialklinik sein müssen. Das gelingt in Baden-Württemberg laut Innenministerium im Schnitt in 46 Minuten.
Wie haben sich die Werte entwickelt?
Im Verbreitungsgebiet der „Schwäbischen Zeitung“ haben sich die Werte vor allem in Weingarten, Ravensburg und Ulm positiv entwickelt. Hier trafen die Rettungswagen im Jahr 2017 im Schnitt sogar in weniger als zehn Minuten am Einsatzort ein. Somit wurde die gesetzliche Hilfsfrist ohne Probleme eingehalten. Sogar die gewünschte medizinische Hilfsfrist von unter zehn Minuten wurde erreicht. In Baden-Württemberg ist das die absolute Ausnahme. Schlechter steht es um den Heuberg bei Tuttlingen. In Kolbingen, Bärental, Fridingen und Renquishausen wurde die gesetzliche Hilfsfrist häufig überschritten. Den Daten zufolge konnte die Frist nur in 24 bis 57 Prozent der Fälle eingehalten werden. In Stödtlen (25,9 Prozent) und Tannhausen (36,8 Prozent) im nördlichen Ostalbkreis sieht es ähnlich aus. Ein Grund für die schlechten Werte kann beispielsweise die Lage der Gemeinden sein. Wenn diese an den Bereichsgrenzen der Rettungsdienstbezirke liegen, sind sie dementsprechend schlechter erreichbar.
Welche Besonderheit gilt für die Grenzregionen zu Bayern?
Im Grenzbereich kommt es zu statistischen Verzerrungen. Der Grund: Überschreitet ein bayerischer Rettungswagen bei einem Einsatz die Landesgrenze, taucht er in der baden-württembergischen Statistik nicht auf. So trügt der Schein beispielsweise bei den Gemeinden Ait-rach und Aichstetten. Sie liegen an der Grenze des Rettungsdienstbezirks Bodensee-Oberschwaben zu Bayern. Ihnen wird baden-württembergischen Erhebungen zufolge eine starke Unterversorgung attestiert. Tatsächlich werden die beiden Gemeinden vor allem vom bayerischen Memmingen aus versorgt. Laut Notarzt Wolfgang Dieing vom Rot-Kreuz-Kreisverband Wangen wird die Hilfsfrist dort in rund 95 Prozent der Fälle eingehalten.
Ist Baden-Württemberg wegen der mangelhaften Ergebnisse bei den Hilfsfristen schlecht versorgt?
Innenminister Thomas Strobl (CDU) betont immer wieder, dass im Schnitt in sieben Minuten der Rettungsdienst beim Patienten ist, nach acht der Notarzt. Und im Schnitt ist der Patient auch in unter einer Stunde in einer Spezialklinik. Kein Bundesland halte die 15-Minuten-Frist so oft ein wie Baden-Württemberg. Die medizinische Versorgung insgesamt ist auf einem hohen Niveau. Nur: Die Einhaltung aller Fristen schwankt sehr nach Regionen.
Die Fristen werden seit Jahren nicht erreicht. Warum nicht?
Das hat viele Gründe. Zum einen steigt die Zahl der Rettungseinsätze seit Jahren. Waren es im Jahr 2012 noch rund 909 000, wurden 2016 in Baden-Württemberg 1 063 000 Einsätze gezählt. Menschen rufen heute häufiger den Rettungswagen als früher. Nach Schätzungen von Notfallmedizinern etwa in Tübingen sind dort fast ein Drittel der Notrufe Fehleinsätze – also keine echten Notfälle. Ärzte beklagen eine „Vollkasko“-Mentalität: Mancher wähle 112, statt lange in einer überfüllten Notaufnahme zu warten oder sich beim Arzt ins Wartezimmer zu setzen. Auch dass Menschen lange Wege zu Fachärzten in Kauf nehmen müssen oder dort nur mühsam Termine bekommen, spielt eine Rolle. Außerdem werden die Menschen älter, und der Anteil der Senioren steigt. Diese aber sind häufiger von Notfällen betroffen als jüngere Menschen. Das Land schafft zwar ständig neue Rettungswagen an, doch oft zehren die steigenden Einsatzzahlen die neuen Kapazitäten auf. Außerdem haben Rettungsdienste und Kliniken zunehmend Probleme, Ärzte und Notfallsanitäter zu bekommen, es herrscht Fachkräftemangel. Hinzu kommen organisatorische Probleme.
Welche sind das?
Im Land gibt es 34 Rettungsdienstbereiche. Ein Ausschuss plant und organisiert dort die Notfallrettung. In dem Gremium sitzen Vertreter von Rettungsdiensten wie DRK oder Johannitern. Sie erbringen im Auftrag des Landes die Leistungen der Notfallrettung. Außerdem vertreten sind dort die Kostenträger, sprich die Kranken- und Unfallkassen. Das Land übernimmt Kosten für den Bau von Wachen und gibt Zuschüsse, etwa um Rettungswagen anzuschaffen. Weil bislang jeder Ausschuss in Eigenregie plant, gibt es von Region zu Region unterschiedliche Regeln, es wird oft nicht über die Grenzen des eigenen Gebiets hinaus geplant. Außerdem wird oft moniert, dass das Land Planung und Arbeit der Rettungsdienste zu wenig beaufsichtigt.
Was sind spezifische Probleme ländlicher Regionen?
Zum einen haben Flächenkreise längere Anfahrtswege, je nach Wetter sind Straßen unwegsam. Außerdem wählen Menschen hier noch häufiger den Notruf als in Ballungsgebieten. Dort schließen Abteilungen oder Kliniken, den Arztpraxen fehlen die Nachfolger, der Bereitschaftsdienst der niedergelassenen Mediziner wird ausgedünnt. Deshalb hat etwa das DRK neue Standorte eröffnet und andere gestärkt.
Was unternimmt das Land, um die Probleme in den Griff zu kriegen?
Innenminister Thomas Strobl hat eine umfassende Reform des Rettungswesens versprochen, erste Schritte hatte bereits sein Vorgänger Reinhold Gall (SPD) eingeleitet. Er führte Qualitätskontrollen und Standards ein. So verstehen nun alle 34 Rettungsdienstbereiche dasselbe unter „Hilfsfrist“, die Uhr tickt ab Eingang des Notrufs. Früher war das nicht der Fall. Die Landesregierung will vier Ärztliche Leiter einstellen, die den Rettungsdienst in ihrem Regierungspräsidium beaufsichtigen. Diese Stellen gab es vorher nicht. Krankentransport und Rettung werden getrennt. So soll verhindert werden, dass Einsatzfahrzeuge bei einem Notfall nicht zur Verfügung stehen.
Was genau plant die Landesregierung?
2019 will Strobl konkrete Vorschläge machen. Das Innenministerium erarbeitet ein neues Konzept für die Leitstellen, die die Einsätze von Rettungsdiensten und Feuerwehr koordinieren. Sie sollen eine einheitliche, moderne Technik bekommen. Außerdem werden die Zuschnitte der Regionen überprüft, für die eine Leitstelle zuständig ist. Denkbar wäre auch, dass das medizinisch geschulte Personal in den Leitstellen am Telefon anhand bestimmter Checklisten herausfindet, ob ein Notfall vorliegt oder ein Besuch beim ärztlichen Notdienst infrage kommt. So soll die Zahl der Fehleinsätze der Retter sinken. Möglich wäre zum Beispiel, Ärzte per Chat um Rat bei der Einschätzung eines Falles zu fragen und die Möglichkeiten der Telemedizin besser zu nutzen. Auch die Standorte der 270 Rettungswachen kommen auf den Prüfstand. Und: Das Land will seinen Rettungsdienst nun landesweit planen: Welchen Bedarf gibt es wo, welche Einsatzfahrzeuge werden wo stationiert und Ähnliches.
Was könnte noch dazu beitragen, die Probleme zu lösen?
Die Ausbildung für Helfer wurde reformiert. Ab 2022 kommen die ersten dieser Notfallsanitäter zum Einsatz. Ihre Ausbildung ist dann die höchste nicht ärztliche Qualifikation im Rettungswesen und löst das Berufsbild des Rettungsassistenten ab. Die Ausbildung dauert drei statt wie bisher zwei Jahre. Rettungsassistenten müssen sich zum Notfallsanitäter weiterqualifizieren. Experten versprechen sich davon, dass diese qualifizierteren Retter künftig noch besser helfen können. Für Baden-Württemberg könnte das bedeuten: Eine einfache Hilfsfrist wäre leichter durchsetzbar. Es wäre dann eventuell ausreichend, wenn die sehr gut ausgebildeten Sanitäter innerhalb der Frist am Einsatzort sind und nicht wie bisher gefordert wird, dass auch der Notarzt schon eintrifft. In den kommenden Jahren sollen 250 Notfallsanitäter bei den Rettungsdiensten neu eingestellt werden.