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Landwirtschaft 4.0

Mit Bits und Bytes über den Acker

Baden-Württemberg / Lesedauer: 7 min

Was sich hinter dem Schlagwort Landwirtschaft 4.0 verbirgt – und wie sinnvoll die Neuerungen sind
Veröffentlicht:06.04.2015, 13:00

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Das Gatter öffnet sich automatisch und die schwarz-weiß-gescheckte Kuh geht vertrauensvoll in die enge Box. Zielstrebig widmet sie sich dem Futtertrog und kaut seelenruhig das Kraftfutter, während sich hinter ihr das Gatter schließt. Ein Roboterarm fährt mit lautem Motorengeräusch unter ihren Bauch.

Kuh 258 wird vom Melkroboter Lely Astronaut auf dem Bad Saulgauer Hof (Kreis Sigmaringen) der Familie Dreher durch den Sender an ihrem Halsband automatisch registriert. Kleine Bürsten reinigen das Euter akribisch, bevor sich die Melkmaschine anschließt. Bis zu dreimal am Tag kann die Kuh selbstständig in den Melkstand gehen, wenn sie spürt, dass das Euter voll ist.

Gleichzeitig setzt sich am anderen Ende des Stalls mit den insgesamt 120 Kühen ein übermannsgroßer Metallbehälter in Bewegung – der Futterroboter rollt mit leisem Surren über den Mittelgang und lädt eine von täglich zehn Ladungen ab. Der Bauer selbst ist derweil mit dem Traktor unterwegs, kümmert sich um seine Biogasanlage oder um die 17 Ferienwohnungen.

Tobias Dreher ist einer derjenigen Landwirte, die offen sind für die Möglichkeiten der Automatisierung. Und das mit Grund: „Seit wir Melk- und Futterroboter einsetzen, haben wir mehr Zeit für anderes“, erklärt der Betriebsleiter des Familienhofes.

Das Kernstück der Arbeitsersparnis liegt aber in der digitalisierten Ackerkartei – der sogenannten Schlagkartei. In einem speziellen Programm angelegt, kann Dreher für jeden Acker oder Schlag genau eingeben, was dort wann angebaut, gedüngt und gespritzt wurde. Gleich auf dem Feld gibt er es in seinen Tablet-PC ein. Sobald er sich auch nur in der Nähe der Maschinenhalle aufhält, verbindet sich das Tablet automatisch mit dem W-Lan und lädt die Daten hoch. Hoch heißt, in die sogenannte Cloud (englisch für „Wolke“) – ein umfassender Online-Datenspeicher. Im Büro kann Dreher dann problemlos auf die Daten zugreifen und sie für die Dokumentation verwenden. Und dokumentieren müssen die Landwirte immer mehr, um den Gesetzen und Verordnungen über das Düngen, Spritzen, die Fruchtfolge und die Stilllegung von Grünflächen gerecht zu werden.

Der Acker auf dem Tablet

Die Digitalisierung macht auch vor der Landwirtschaft nicht Halt. Der Weg zur Landwirtschaft 4.0 wird von Bauern wie Tobias Dreher bereits betreten. Genau das ist es auch, was Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt ( CSU ) sich wünscht. Und er wünscht sich noch mehr. Er will „Big Data“ in der Landwirtschaft. Die Maschinen sollen während der Arbeit Daten erheben, analysieren, austauschen – Daten über die Bodenqualität, das Wetter, die Düngemenge und den Ertrag. Experimentiert wird bereits mit Drohnen, die über das Feld fliegen, und Live-Datenübertragung vom selbst fahrenden Traktor. Doch dafür braucht es ein mobiles Breitbandnetz mit Hochgeschwindigkeitsübertragung.

Selbst beim Festnetz-Breitband sind ländliche Regionen noch weit davon entfernt, und die Pläne der Bundesregierung wirken dürftig. 590Millionen Euro stellt das Bundeslandwirtschaftsministerium den Ländern zur Verfügung, um bis 2018 eine flächendeckende Breitbandversorgung mit 50 Megabit pro Sekunde zu erlangen. Von „Hochgeschwindigkeit“ kann da keine Rede sein – die liegt bei 200 Megabit pro Sekunde.

Wunsch und Wirklichkeit

Im Moment liegt die Versorgung auf dem Lande bei im Schnitt sechs Megabit pro Sekunde, und das nur bei 85Prozent der Landbevölkerung. Also bleibt der Drohneneinsatz über dem Feld vorerst noch Zukunftsmusik. Die Digitalisierung auch der eher kleinteiligen süddeutschen Landwirtschaft schreitet trotzdem voran. Stephan Wjst aus Tettnang (Bodenseekreis) hat schon 2001 die Zeichen der Zeit erkannt und seine Firma ASSW GmbH & Co. KG gegründet, die die digitale Schlagkartei Proflura programmiert. Seit 2005 widmet sich der studierte Landwirt dieser Aufgabe in Vollzeit und hat bundesweit etwa 1500 Kunden. Einer von ihnen ist Tobias Dreher. „Die Dokumentation der Schläge müssen Sie sich noch viel komplexer als Ihre Steuererklärung vorstellen“, sagt Wjst, „und es wird immer komplizierter.“

Die Anforderungen und Verordnungen, an die sich die Bauern halten müssen, ändern sich häufig. Um nicht die neuesten Änderungen der Dünge- und Pflanzenschutzmittelverordnung zu verpassen, werden Wjsts Kunden live über ihre Schlagkartei informiert. Die Digitalisierung ist also aus Wjsts Sicht nicht allein eine Arbeitserleichterung, sondern auch ein Mehr an Sicherheit. Reinhild Benning vom Bund Naturschutz (BUND) weiß einen weiteren Vorteil: Transparenz, denn die Dokumentation über Antibiotika- und Gülleeinsatz geschehe dann nicht mehr handschriftlich, sondern per Datenbank. Programme wie Proflura ermöglichen tatsächlich eine einfache Datenübertragung an die Behörden. Anträge für die Flächenprämie der EU oder Förderungen aus dem baden-württembergischen Fakt-Programm lassen sich per Mausklick aus der Ackerschlagkartei erstellen.

Aus Daten werden Informationen

Aber Benning befürchtet auch eine gewisse „Blindheit der Landwirte“ durch die Automatisierung: „Bauern auf kleinen Treckern ohne GPS haben besser im Blick, ob ein Kiebitznest oder ein Rehkitz vor ihnen auftaucht.“ Die „Megamaschinen“ sollten ihrer Meinung nach nicht nur Pflanzwuchs und Düngerbedarf vor sich auf dem Feld messen, sondern auch Feldlerchennester erkennen können. „Die Technik sollte nach nachhaltigen Kriterien fortentwickelt werden“, sagt sie, sonst nütze sie der Gesellschaft wenig.

Was „Megamaschinen“ machen und wie weit die Datenerhebung und Datenauswertung getrieben werden kann, testet zurzeit unter anderem der westfälische Landmaschinenhersteller Claas. Er hat 2013 die Firma 365Farmnet gegründet. Hochmoderne Traktoren, Düngerverteiler oder Pestizidspritzen können mehr als nur fahren und verteilen. Sie funktionieren computergesteuert, sind smart und wissen dank Wiege- und Messtechnik genau, wie viel sie geladen haben, wie viel sie wohin verteilen und – dank Lokalisierungstechnik GPS und RTK – auf zwei Zentimeter genau, wo sie sich befinden. Mit automatischen Lenksystemen können die Spuren im Acker so gezogen und gehalten werden, dass es keine Überlappungen gibt, kein Quadratzentimeter zweimal besät oder gedüngt wird. Melkroboter messen nicht nur die Milchmenge, die pro Kuh pro Jahr gemolken wird, sondern sogar pro Euterviertel. Anhand der elektrischen Leitfähigkeit der Milch stellt die Melkmaschine sogar Euterentzündungen fest und informiert den Bauern umgehend.

Mit welchen Daten die schlauen Maschinen gefüttert werden und was wiederum mit den Daten geschieht, die die Maschinen selbst senden, darum kümmert sich beispielsweise 365Farmnet. Dazu gehört natürlich auch eine Ackerschlagkartei wie die von Proflura. Sie ist und bleibt das Kernstück für den Bauern.

Mehr Kostenkontrolle

So sind auch die Biogaslandwirte Georg Frey und sein Sohn Julian aus Dentingen (Kreis Biberach) auf die Software aufmerksam geworden. „Wir haben nach einer modernen Schlagkartei gesucht. Mein Sohn hatte dann die Idee mit der Digitalisierung“, erzählt Georg Frey. Die etwa 200 Hektar mit Mais- und Energiepflanzenanbau verwaltet der Landwirt nun digital. „Nach meiner Erfahrung ist es am besten, die Dokumentation gleich bei der Arbeit zu machen“, also über das Tablet noch im Traktor. Hinterher gehe sonst vieles verloren, werde vergessen. „Wir haben nun auch einen besseren Überblick über die Kosten.“

Auch hier werden die Daten in die Cloud geladen, im System gleich richtig geordnet und für die Übertragung an die Behörden vorbereitet. Der 365Farmnet-Marketingleiter Klaus-Herbert Rolf verspricht: „Die Daten gehören dem Landwirt und nicht uns.“ Sie würden also nicht ungefragt an einen der 15 Kooperationspartner der Firma weitergegeben, wie zum Beispiel an den Saatguthersteller KWS oder den Rückversicherer Allianz Re. Die Partner dürften lediglich im Farmnet-Shop zusätzliche Dienstleistungen zum Kauf anbieten.

Die Bauern Frey und Dreher spielen nun beide mit dem Gedanken, ein modernes GPS-gesteuertes Präzisions-Lenksystem zu kaufen. Immerhin liege allein dessen Ertragssteigerung bei fünf bis sieben Prozent, wie Claas errechnet hat. Aber beide Landwirte sind sich auch sicher: Eigentlich geht es auch ohne die teure Technik.

Kuh 258 ist das wahrscheinlich egal. Sie ist jetzt fertig gemolken. Das Gatter öffnet sich und sie macht der nächsten Platz, die schon wartet.