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Reportage

IS-Flüchtlinge: Ein Leben in Ruinen

Baden-Württemberg / Lesedauer: 6 min

Im Nordirak wohnen die vom „Islamischen Staat“ vertriebenen Menschen noch immer unter kärglichen Bedingungen
Veröffentlicht:11.09.2017, 19:08

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An den 3. August 2014 erinnert sich Serdar Abdi Murad mit großem Schrecken: „Damals wurden aus Freunden plötzlich Feinde.“ An jenem Tag vor mehr als drei Jahren endete das erste Leben des heute 64-Jährigen, der mit seiner Familie in einem kleinen Dorf des Shingal-Bergzuges an der Grenze des Irak zu Syrien gelebt hatte. Hunderte Kämpfer des „Islamischen Staates“ (IS) fuhren in ihren gepanzerten Autos von Stützpunkten östlich und westlich des Bergzuges los. Von beiden Seiten überrannten sie die vielen kleinen Dörfer rund um das Gebirge. Widerstand gab es fast keinen. Die kurdischen Peschmerga-Soldaten in der Region hatten sich zurückgezogen: „Warum eigentlich?“, fragt sich Abdi Murad, „sie sollten uns doch beschützen!“

Abdi Murad ist Jeside und gehört damit wie die Christen zu einer religiösen Minderheit im Nordirak. „Meine Nachbarn waren Muslime, wir haben jahrzehntelang friedlich zusammengelebt, aber an jenem Tag schlossen sie sich dem IS sofort an, bekämpften uns, plünderten unsere Häuser.“ Abdi Murad wird leise, als er erzählt, wie sein Haus und seine Äcker zerstört wurden: „Obwohl wir eine weiße Fahne als Zeichen der Kapitulation gehisst hatten!“ Die meisten Jesiden, von denen Hunderttausende im Nordirak leben, wurden wie Abdi Murad mit seiner insgesamt 17-köpfigen Familie überrascht von den Extremisten, die diese Minderheit als „Teufelsanbeter“ betrachten. Die Dschihadisten enthaupteten viele der Männer und versklavten die Frauen, die bis heute als Sexsklavinnen missbraucht werden. Tausende landeten in der Gewalt des IS.

Ohne Wasser, ohne Essen

Wer fliehen konnte, war längst nicht in Sicherheit. In den Bergen spitzte sich die humanitäre Lage bei 50 Grad zu. Erst, als ein US-geführtes Militärbündnis aus der Luft Hilfsgüter abwarf, konnte die Not gelindert werden. Doch für einige war es da schon zu spät. „Menschen starben, weil sie kein Wasser und kein Essen hatten“, sagt Abdi Murad. Er hatte mit seiner Familie Glück und konnte gerade noch rechtzeitig fliehen: In der Nähe der Provinzhauptstadt Dohuk stellte ein christlicher Hausbesitzer seinen Rohbau zur Verfügung.

Doch das Haus, in dem die Familie Abdi Murad seither lebt, hat keine Fenster, keine Heizung und keine Türen. Die Familie sitzt auf dem nackten Betonboden, einige Decken sind ausgebreitet. Das jüngste Kind ist ein gutes Jahr alt. Über eine Satellitenschüssel besteht der einzige Kontakt zur Außenwelt. „Was sollen wir hier? Das ist doch kein Leben“, sagt Abdi Murad. Ganze Straßenzüge des kleinen Dorfes bestehen aus Bauruinen, in denen Flüchtlinge wohnen. Der Bürgermeister aus Abdi Murads Heimatdorf, Ibrahim Darwesh, auch er musste fliehen, hat dafür gesorgt, dass die Kinder der Flüchtlinge in die örtliche Schule gehen können.

Für den bevorstehenden Wintereinbruch ist man etwas besser gerüstet als vor zwei oder drei Jahren, auch weil die Fenster mit Plastikplanen und Holzlatten winterfest gemacht wurden. Die Familie bekomme aber seit drei, vier Monaten kein Essen mehr, sagt Abdi Murad. Seine Familie versucht, mit Gelegenheitsjobs Geld zu verdienen, um sich Linsen, Weizen und Reis andernorts zu besorgen. In eines der Flüchtlingscamps seien sie nicht mehr aufgenommen worden. Kein Platz.

Das Schicksal der Familie Abdi Murad teilen immer noch Hunderttausende: In der Provinz Dohuk der Autonomen Region Kurdistan im Norden des Irak müssen neben den Jesiden mehr als eine Million Vertriebene aus dem eigenen Land versorgt werden. In den vergangenen drei Jahren sind 780.000 Flüchtlinge dazugekommen. Die Menschen klagen über die schlechte Versorgung, die Vereinten Nationen – die gemeinsam mit anderen Helfern vor dem Wintereinbruch Regenkleidung, Decken und Heizmaterialien verteilen – über Geldprobleme. Eine dauerhafte Perspektive können und wollen sich die Flüchtlinge nicht aufbauen. Nach Angaben der Provinzregierung leben rund zwei Drittel der Flüchtlinge und Vertriebenen außerhalb der 28 Camps rund um die Stadt Dohuk.

In den Camps – eines davon, das Camp Mam Rashan unterstützen die Leser der „Schwäbischen Zeitung“ – leben die Bewohner ebenfalls unter schlichtesten Bedingungen. Wenn sie Glück haben – wie in Mam Rashan – stehen ihnen Wohncontainer zur Verfügung.

In unserem Storytelling "Drüben ist Krieg" können Sie sich ein eigenes Bild darüber machen, wie die Flüchtlinge dort leben.

Doch rund um Dohuk sind viele Zeltstädte zu sehen: Mit Öl getränkt, sollen die Leinwände Wind und Kälte abhalten. Das drängendste Problem aber sind fehlende Schulen und fehlende Arbeitsmöglichkeiten: 4000 Dollar soll ein Gewächshaus kosten, das sechs Familien ernähren und Gewinn abwerfen könnte: „Doch wer bezahlt 4000 Dollar“, fragt Amer Abo, der Leiter eines der Camps. An eine Rückkehr in ihre Heimat im Shingal-Gebirge aber kann die Familie Abdi Murad derzeit noch nicht denken. Zwar ist die Stadt Mossul, die drei Jahre lang unter IS-Kontrolle und dessen wichtigstes Zentrum im Irak war, seit drei Monaten befreit. Aber in Mossul wie im Shingal-Gebirge sind Häuser, Schulen und Krankenhäuser zerstört, die Versorgung mit Wasser und Elektrizität ist zusammengebrochen. Die UN schätzen, dass sie dort bis zu umgerechnet 358 Millionen Euro für die wichtigsten Maßnahmen zum Wiederaufbau der Infrastruktur brauchen. Der Wiederaufbau des ganzen Landes dürfte Milliarden kosten.

Vor allem aber ist und bleibt der Irak ein zerrissener, nach Meinung von Experten ein zerfallender Staat mit vielen Volksgruppen, die sich gegenseitig bekämpfen. Nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) bedeutet die Rückeroberung von Mossul weder das Ende des Irak-Konfliktes noch der humanitären Notlage in diesem Land.

In anderen Landesteilen werden Iraker weiterhin vertrieben, von Landminen bedroht oder können nicht in ihre zerstörten Dörfer zurückkehren. Mehr als drei Millionen Menschen sind zudem mittlerweile im Irak vertrieben und brauchen dringend Unterstützung. „Die Kämpfe mögen fast vorbei sein, aber die humanitäre Krise ist es nicht“, erklärt die UN-Koordinatorin für humanitäre Hilfe im Irak, Lise Grande.

Ideologie und Terror bleiben

Jesiden wie die Familie Abdi Murad schließen ihre Rückkehr kategorisch aus, solange sie in ihrer alten Heimat ihres Lebens nicht sicher sein können. Denn die verbliebenen Dschihadisten dürften untergetaucht sein und auf eine Guerilla-Taktik setzen. Zu Terroranschlägen sind sie ebenfalls weiterhin in der Lage. Auch die Ideologie des IS lebt weiter. „Wir erwarten daher von der Weltgemeinschaft, dass sie eine Schutzzone in den Siedlungsgebieten der Christen und Jesiden für uns einrichtet.“ Jesiden, Christen und andere Minderheiten stünden an einem „existenziellen Scheideweg“. Zu lebendig ist bei den Jesiden die Erinnerung an staatlich angeordnete Morde: 1991 hatte der damalige irakische Staatschef Saddam Hussein unter anderem Giftgas gegen im Nordirak lebende Zivilbevölkerung eingesetzt.

„Ja, wir brauchen den Schutz der Weltgemeinschaft, auch mit Waffengewalt“, wiederholt Abdi Murad. Man sei den Kurden für die Aufnahme dankbar. „Wenn wir aber jemals wieder in Frieden in unserer Heimat leben wollen, dann müssen wir in der Schutzzone eine Gerechtigkeitskommission einsetzen, vor der sich die Muslime, die erst unsere Nachbarn waren, die uns dann aber überfallen haben, verantworten müssen.“ Die Frage, warum aus Freunden Feinde wurden, wird Serdar Abdi Murad noch lange begleiten.