StartseiteRegionalBaden-Württemberg„Hexenkessel“-Prozess: So emotional war der erste Verhandlungstag

Hexenkessel

„Hexenkessel“-Prozess: So emotional war der erste Verhandlungstag

Heilbronn / Lesedauer: 8 min

Beim „Hexenkessel“-Prozess in Heilbronn streitet der Hauptverdächtige alles ab – 18-Jährige schildert ihr Martyrium
Veröffentlicht:03.12.2018, 21:41

Von:
Artikel teilen:

Unter Tränen sagt die 18-Jährige in der Mitte ihrer Vernehmung: „Es hat sich angefühlt, als ob ich brenne.“ Der Satz lastet schwer auf der Szene im Verhandlungssaal Nummer 148 des Amtsgerichts Heilbronn. Es ist der größte Raum im Justizgebäude, damit das Dutzend Reporter sowie die zwei Dutzend Zuhörer auch Platz finden.

Von den Wänden und der Decke verstärken Vertäfelungen in Eiche rustikal diesen bedrückenden Moment. Alle Augen starren auf die junge Frau im Zeugenstand mit ihren dunkelrot gefärbten Haaren, die am 3. Februar auf einem Nachtumzug auf der Fasnet in Eppingen nahe Heilbronn mit den Beinen in einen Kessel kochendes Wasser getaucht worden ist.

Ob das wieder ganz gut wird, das kann mir niemand sagen. Ich habe immer gerne Kleider getragen, das kann ich jetzt nicht mehr.

Sie schildert ihr Martyrium. Berichtet von den Tagen auf der Intensivstation. Den Wochen im Krankenhaus und danach in der Reha. Der Hauttransplantation. Den Hunderten Klammern in ihren Beinen, von denen jede einzelne wieder unter Schmerzen entfernt werden musste. Und den Monaten, seit denen sie zur Physiotherapie geht und zur Nachkontrolle.

Von der Schlaflosigkeit. Der Zeit, als sie weder stehen noch laufen konnte und das Gehen quasi wieder lernen musste. „Ob das wieder ganz gut wird, das kann mir niemand sagen“, antwortet sie auf die Frage des Richters, ob es denn eine Chance gibt, wieder vollständig gesund zu werden. „Ich habe immer gerne Kleider getragen, das kann ich jetzt nicht mehr.“ Ins Schwimmbad traue sie sich nicht, weil sie die Blicke der anderen nicht ertragen könne. Auf ihre verbrühten Beine, die für den Laien aussähen, als leide sie an einer ansteckenden Hautkrankheit.

Ein Kessel, in dem sich bei einem Fastnachtsumzug eine junge Frau verbrüht hatte, steht vor der Polizeiwache. Foto: Stephen Wolf/Archiv
Ein Kessel, in dem sich bei einem Fastnachtsumzug eine junge Frau verbrüht hatte, steht vor der Polizeiwache. Foto: Stephen Wolf/Archiv (Foto: Stephen Wolf/Archiv/DPA)

Rechts von ihr sitzt der Angeklagte, dem die Staatsanwaltschaft vorwirft, jene Hexe mit der pelzbesetzten Jacke gewesen zu sein, die das junge Mädchen am Ende in den Kessel gehoben und losgelassen hat. Die Anklage lautet: fahrlässige Körperverletzung. Strafrahmen bis zu drei Jahre Gefängnis. Der Beschuldigte ist in dunkelblauem Sakko und grauer Anzughose erschienen. Und er hat seinen Vater mitgebracht, der vor sich hinmaulend alle Pressevertreter mit seinem Handy fotografiert, die es wagen, ein Bild von seinem Sohn zu machen.

Öfter wischt der Angeklagte sich mit der Hand über die Haarstoppeln seines weitgehend glatt rasierten Schädels. Die meisten Haare trägt er im Gesicht – in Form eines gepflegten Vollbarts. Eine Brille sitzt auf der Nase. Seine tadellose Erscheinung passt zu seinem Beruf: Der 33-Jährige ist selbstständiger Versicherungsfachmann. Wenn er etwas sagt, was kaum vorkommt, verlassen die Worte flüssig seinen Mund.

Strategie der Verteidigung wird schnell klar

Neben ihm hat zunächst unauffällig sein Verteidiger Platz genommen, der ganz zu Anfang bereits klarmacht, was im weiteren Verlauf des Prozesses dann auch über Stunden seine Strategie spiegelt: Nicht der hier präsentierte Angeklagte war es – sondern irgendjemand. Tausende hätten am Straßenrand gestanden. Hunderte Narren seien durch die kleine Stadt marschiert. Der Kessel auf dem Bollerwagen – zu diesem hätte jeder Zugang gehabt. Die freie Fasnetsgruppe „Bohbrigga Hexenbroda“, weder als Verein organisiert noch in einem Verband registriert, sei mit ihren Hexenmasken auch nicht eindeutig als Gruppe identifizierbar gewesen.

Mit einem Wort: Keine leichte Aufgabe für einen bisweilen ohnehin von der Situation überfordert scheinenden Richter. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Verteidiger des Angeklagten mit seltener Forschheit und Aggressivität die Zeugen weniger befragt als auseinandernimmt.

"Hexenkessel"-Prozess: Die Anklage lautet fahrlässige Körperverletzung.
"Hexenkessel"-Prozess: Die Anklage lautet fahrlässige Körperverletzung. (Foto: dpa)

Das beginnt eigentlich schon mit der Vernehmung des Opfers selbst, das viele Monate nach der polizeilichen Befragung natürlich nicht mehr Buchstabe für Buchstabe den Inhalt aus den Polizeiprotokollen von damals wiedergeben kann. Und genau das ist der Hebel, den der Verteidiger des Angeklagten immer wieder und bei jedem danach auftretenden Zeugen ansetzt. Dabei bedient er sich nicht nur einer bisweilen manipulativen Methode – er begleitet seine Fragen stets mit einer außerordentlich starken Mimik.

Sein Repertoire: fassungsloses Erstaunen, illustriert durch einen zum Entenschnabel geformten Mund und weit aufgerissene Augen. Dann wieder geckenhaftes Grinsen, wenn er das von Zeugen Gehörte offenbar für Unsinn hält. Außerdem verschiedene Facetten von Mitleid, mal mit gesenktem Kopf, mal mit fest zusammengekniffenem Mund. Und oft genug ein spöttisches Lächeln.

Mit dieser sehr speziellen inquisitorischen Art der Vernehmung reißt er das Verfahren schon früh an sich, maßregelt die Staatsanwältin, indem er ihr vorwirft, sie habe bei einer seiner Wiederholungsfragen die Augen verdreht. Auch der Vertreter des Opfers wird immer wieder angegangen. Die Art seines Auftretens lässt klar erkennen, dass es nicht der sehr vorsichtige Vorsitzende ist, der den Prozess eigentlich führt, sondern der Anwalt, der das permanente Spiel des Inzweifelziehens der Zeugenaussagen ohne Ermahnung munter fortsetzt.

Der Mann soll bei einem Fastnachtsumzug eine damals 18-jährige über einen Kessel mit kochend heißem Wasser gehalten haben - Dabei soll ihm die junge Frau entglitten und mit den Beinen in das Wasser geraten sein. Die Anklage lautet fahrlässige Körperverlet
Der Mann soll bei einem Fastnachtsumzug eine damals 18-jährige über einen Kessel mit kochend heißem Wasser gehalten haben - Dabei soll ihm die junge Frau entglitten und mit den Beinen in das Wasser geraten sein. Die Anklage lautet fahrlässige Körperverlet (Foto: dpa)

Vielmehr lässt es der Vorsitzende zu, dass viertelstundenweise darüber diskutiert wird, ob Zeuge X eher fünf Meter oder fünfzig Zentimeter vom Kessel entfernt gestanden hat, obwohl derlei Detailfragen in der Beweisaufnahme wenig zur Aufklärung beizutragen haben. Als gesichert gilt, dass mindestens zwei Männer in Hexenkostümen ihr Opfer gepackt, zum Kessel gezerrt, angehoben und mit den Beinen eingetaucht haben. Unisono erklären alle Zeugen, dass die Hexe in der Pelzjacke – hinter der die Staatsanwaltschaft den Angeklagten vermutet – der Hauptakteur gewesen sei.

Für einen Herrn in olivgrüner Jägerskluft auf dem Flur vor dem Sitzungssaal ist der ganze Vorgang von damals ungeheuerlich: „Ich bin selbst im Vorstand einer Fastnachtszunft. So etwas passiert nur mit sogenannten freien Gruppen“, schimpft der Mittfünziger, der weder verraten will, woher er kommt, noch welcher Zunft er angehört, geschweige denn, wie er heißt.

Nur so viel: Es sei eine traditionelle Zunft mit langer Geschichte, selbstredend Mitglied im LWK, dem Landesverband Württembergischer Karnevalvereine. Schon allein, dass jemand auf einem Bollerwagen einen Ofen mit echtem Holzfeuer und Wasserkessel spazieren fahre – für eine ordentliche Zunft „undenkbar“. Und dann diese billigen chinesischen Plastikmasken. „Geschmacklos!“ Außerdem hätten reguläre Gruppen stets einen Bändel, auf dem die Daten zur Zunft und des Mitglieds verzeichnet seien. „Um genau so etwas zu vermeiden, dass man sich, wenn was passiert, davonstiehlt.“

Droh-Mail in der Verhandlungspause

So ist es – glaubt man einer Reihe von Zeugen im Prozess – damals in Eppingen nach dem schrecklichen Vorfall geschehen. Als das verbrühte Opfer, nachdem ein Freund es aus dem Wasser gezogen hatte, schreiend auf dem Bordstein lag, habe sich die Gruppe der Hexen samt dem Kessel verkrümelt. Dass am Ende überhaupt noch jemand gestellt werden konnte, sei dem Freundeskreis des Opfers zu verdanken, der den Hexen nachgerannt ist und teilweise Fotos geschossen hat.

Doch das berührt die Verteidigung des Angeklagten wenig: Wer immer da sein Unwesen getrieben habe, wer immer schuld sei am großen Leid der jungen Frau – es sei nicht einmal klar, wer überhaupt zu dieser freien Gruppe gezählt werden könne. Mit anderen Worten des Anwalts: Nicht sein Mandant, sondern jeder hätte es sein können. Nach der Mittagspause, bevor die nächsten Zeugen aufgerufen werden, sagt der Verteidiger: „Herr Vorsitzender, ich habe in der Verhandlungspause eine Droh-E-Mail bekommen.“ Er teile das nur mit, weil es ja irgendwie auch zu diesem Prozess gehöre. Er hält sein Telefon hoch und liest vor: „Ab in den Hexenkessel mit Ihnen und Ihrem Mandanten!“ Über das Gesicht des Angeklagten huscht ein kurzes Grinsen. Der Richter entschuldigt sich beim Verteidiger, dass er solches erleiden müsse.

Die Reihe der Zeugen – am Ende sind es an diesem Montag 16 – geht weiter mit den Hexen aus der Gruppe des Angeklagten, die fast deckungsgleich alle das Gleiche gesehen haben wollen: nämlich nichts. Der Kessel sei zeitweise unbeaufsichtigt gewesen. Da der Vorfall zum Ende des Umzugs geschehen sei, habe heilloses Durcheinander geherrscht. Niemand sei so richtig zuständig gewesen für den Kessel. Von der Verbrühung wollten manche Gruppenmitglieder erst am anderen Tag erfahren haben.

Am Mittwoch geht die schwierige Wahrheitsfindung am Amtsgericht Heilbronn weiter. Dann soll voraussichtlich auch ein Urteil fallen. „Hexenjagd“, zischt ein Prozessbeobachter am Montag beim Verlassen des Sitzungssaals.