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Weihnachtspredigt

Gott ist in der Not des Anderen zu finden

Ravensburg / Lesedauer: 4 min

In seiner Weihnachtspredigt plädiert der Moraltheologe Eberhard Schockenhoff dafür, allen Menschen die gleiche unteilbare Menschenwürde zukommen zu lassen.
Veröffentlicht:24.12.2019, 06:00

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In seiner Weihnachtspredigt für die Leserinnen und Leser der „Schwäbischen Zeitung“ plädiert der Moraltheologe Eberhard Schockenhoff dafür, allen Menschen die gleiche unteilbare Menschenwürde zukommen zu lassen: „Ungeachtet ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts und ihrer Herkunft, ungeachtet ihrer sozialen Stellung und ihrer Leistungsfähigkeit.“

Die Novelle „Nicht nur zur Weihnachtszeit“ von Heinrich Böll schildert bei oberflächlicher Betrachtung eine groteske Szene, die das stimmungsvolle Gefühl heimatlicher Geborgenheit aufs Korn nimmt, das viele Menschen an den weihnachtlichen Festtagen suchen. Eine alte Dame besteht darauf, jeden Tag Weihnachten zu feiern und fängt jeden Morgen mit den entsprechenden Vorbereitungen an, als ob heute der große Tag wäre. Ihre Umgebung wird schier verrückt dabei; das Wort „Weihnachten“ will in ihrer Familie am Ende niemand mehr hören.

Aber ist das, was diese leicht verrückt gewordene alte Dame auf liebenswürdige, auf die Dauer jedoch unerträglicher Komik feiern möchte, nicht doch ein Urtraum der Menschheit? Dass jeden Tag Frieden herrscht, Konflikte nicht mit militärischer Gewalt gelöst werden und Feinde Brücken zueinander bauen? Tatsächlich geht es in Bölls Novelle um den Kern der Weihnachtsbotschaft. Sie kann nämlich nur wahr sein, wenn sie immer und überall gilt, nicht nur an bestimmten Orten der Welt und an besonders stimmungsvollen Tagen, sondern überall, wo Menschen wohnen und das ganze Jahr hindurch.

Weihnachten gibt, so merkwürdig es scheint, der alten Dame recht: Der Urwunsch der Menschen nach Frieden, Liebe und Geborgenheit ist kein unerfüllbarer Traum, sondern die Sehnsucht, die Gott in der Menschwerdung seines Sohnes erfüllen will. Wem die Lotterie des Lebens das Glück zuwies, in einem Land zu wohnen, in dem es nur selten Naturkatastrophen, wenig Terroranschläge (im weltweiten Vergleich) und keinen Krieg gibt, der kann an Weihnachten seinen Blick nicht von den vielerlei Notlagen abwenden, die das bedrückende Los vieler Menschen in anderen Erdteilen bestimmen. Deshalb werden die Menschen von Kirchen und humanitären Hilfsorganisationen zu Spenden aufgerufen, um Hunger und Elend in fernen Ländern zu bekämpfen. Das Besondere am Weihnachtsfest des Jahres 2019 ist, dass die ferne Not uns in der Gestalt von beinahe einer Million Flüchtlingen nahegekommen ist, in unser Land, in unsere Städte und unsere Wohngebiete. Einige suchen nur vorübergehend Schutz vor Terror und Bürgerkrieg, die meisten werden bei uns bleiben, um in Deutschland oder in Europa eine neue Heimat zu finden.

Manche unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger sehen darin eine Bedrohung, weil sie die hohe Zahl der Flüchtlinge nur als abstrakte Gesamtgröße wahrnehmen. Die von ihr ausgehende Gefahr wird in suggestiven Bildern beschwört: Gleich einem Strom, der nicht abreißt, und einer Welle, die über uns hereinbricht, stören fremde Menschen in unerwarteter Zahl unsere Lebensgewohnheiten. Gibt es nicht auch ein Recht auf Heimat? Ist es nicht ein schützenswertes Interesse, den erreichten Wohlstand ungestört genießen zu können? Offen ausgesprochen werden solche Bedrohungsgefühle von den wenigsten. Doch schwingen sie mit, wenn davon die Rede ist, unsere Aufnahmekapazitäten seien erschöpft und selbst ein reiches Land wie Deutschland verfüge nicht über grenzenlose Hilfsmöglichkeiten.

Von der Botschaft des Weihnachtsfestes fällt ein anderes Licht auf die Flüchtlinge, die zu uns kommen: Denn der Mensch gewordene Gott, der in einem Stall zur Welt kam, hat in ihr einen Ort gefunden, an dem er seitdem sicher zu finden ist: im anderen Mitmenschen. Denn Gott ist nicht utopisch, ortlos oder fremd in der Welt, vielmehr können wir ihm in jedem einzelnen Menschen begegnen. Das ist die entscheidende Pointe der Rede der Menschwerdung Gottes. Gott zeigt dem Menschen sein innerstes Geheimnis nicht in ästhetischen Naturerlebnissen, nicht in einem heiligen Buch und nicht in einer gesetzlichen Ordnung, deren Befolgung Wohlergehen und Sicherheit verheißt. Wer Gott für den Menschen ist, offenbart er in der Geburt, im Leben und in der Botschaft eines Menschen, des Jesus von Nazareth. Seine Geburt im Stall zeigt uns den einzigen Ort, an dem Gott sich von jedem Menschen, ob er gläubig oder zweifelnd, getauft oder ungetauft, fromm oder atheistisch, ist, sicher finden lässt: der Not des Anderen.

Dieser Universalismus der Gottesbegegnung im Anderen bestimmt die Identität des Christentums. Auch die geistigen Wurzeln Europas sind davon geprägt. Die griechische Philosophie, die jüdisch-christliche Glaubenstradition und die europäische Aufklärung brachten den Glauben an die fundamentale Gleichheit aller Menschen im Gedanken an die Menschenwürde zum Ausdruck. Allen Menschen kommt die gleiche unteilbare Menschenwürde zu – ungeachtet ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts und ihrer Herkunft, ungeachtet ihrer sozialen Stellung und ihrer Leistungsfähigkeit.