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Exklusivinterview

FDP-Politiker Rülke im Exklusivinterview: „Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit“

Stuttgart / Lesedauer: 7 min

Hans-Ulrich Rülke, Spitzenkandidat der Südwest-FDP, über das Corona-Krisenmanagementder grün-schwarzen Landesregierung und der Kanzlerin Merkel – Er selbst würde die FDP in ein Bündnis mit Grünen oder CDU führen
Veröffentlicht:06.02.2021, 08:00

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Endlich wieder mitregieren: Das ist das erklärte Ziel der FDP in Baden-Württemberg nach zehn Jahren in der Opposition. Im Gespräch mit Kara Ballarin und Theresa Gnann erklärt Spitzenkandidat Hans-Ulrich Rülke, wie die Liberalen das bewerkstelligen wollen – und warum sie dafür auch mit den Grünen ins Boot steigen würden.

Herr Rülke , warum wird die FDP in der Krise nicht deutlicher als Partei der Freiheit und der Grundrechte wahrgenommen?

2020 sind wir nicht zu den Leuten durchgedrungen. Die Menschen fürchteten das Coronavirus und suchten Zuflucht beim schützenden Staat. Da waren die Freiheitsrechte nicht so en vogue. 2021 hat sich das aber gedreht. Die FDP wird zunehmend in dieser Rolle wahrgenommen. Das schlägt sich auch in der Umfragenentwicklung der FDP-Bundespartei nieder. Zum Jahreswechsel habe ich noch gesagt, wir würden keinen Rückenwind durch die bundespolitischen Umfragen verspüren. Inzwischen ist da zumindest ein leichtes Lüftchen.

Wie schwer ist es derzeit, Infektionsschutzmaßnahmen der Regierungen in Bund und Land mitzutragen und trotzdem als eigenständige liberale Stimme wahrgenommen zu werden?

Das ist nicht ganz leicht. Wir müssen einen vernünftigen Ausgleich finden zwischen dem Schutzbedürfnis der Bevölkerung und gesellschaftlichen Aufgaben wie Schule, Sport, Kultur und Wirtschaft. Das ist die Aufgabe der Politik. Aktuell habe ich aber den Eindruck, die Ministerpräsidentenkonferenz, die Landesregierung und auch die Kanzlerin haben überhaupt keine Strategie. Man tastet sich von MPK zu MPK und zerstreitet sich auf der Strecke. Das sieht man hier in Baden-Württemberg an den Streits um Click and Collect, um Schulöffnungen, Notbetreuung und Teststrategie. Das alles erinnert doch eher an eine Tortenschlacht aus „Dick und Doof“ als an zielgerichtetes Regierungshandeln. Als es um die Ausgangssperren ging, hat Herr Kretschmann mit dem Inzidenzwert 200 argumentiert. Jetzt sind wir überall im Land weit darunter, die Ausgangssperren werden trotzdem nicht aufgehoben. Ähnlich ist es beim Handel und der Gastronomie. Die Menschen brauchen wieder Orientierung. Deshalb haben wir am Donnerstag im Landtag einen konkreten Lockerungsplan vorgebracht – orientiert an den Inzidenzwerten.

Beim Impfen setzt die Landesregierung weitgehend auf Sicherheit, hält einen großen Teil der Impfdosen zurück, um trotz Lieferengpässen garantieren zu können, dass jeder seine Zweitimpfung rechtzeitig bekommt. Hätten Sie anders entschieden?

Von dieser Strategie hat man sich inzwischen wieder verabschiedet und verimpft jetzt die Vorräte. Ich hätte mich von vornherein nicht auf die Europäische Kommission und Jens Spahn verlassen. Wer sich selbst um Impfstoff kümmert und wer bereit ist, einen höheren Preis zu bezahlen, hat deutlich höhere Erfolgsaussichten im Kampf gegen die Pandemie. In einer Zeit, in der die EU Billionen im Kampf gegen die Corona-Krise bereitstellt, schaut sie beim Impfstoff auf das Geld, während Israel und Großbritannien den Impfstoff wegkaufen. Ich hätte mir gewünscht, dass wir uns selbst um die Impfstoffbeschaffung kümmern. Mit der Organisation ist Sozialminister Lucha erkennbar überfordert. Ich kann Herrn Kretschmann nur vorschlagen, Lucha die Zuständigkeit zu entziehen.

Sie haben mehrfach die Corona-Maßnahmen der Landesregierung kritisiert. Jetzt sinken die Zahlen. Sind die Maßnahmen also doch richtig gewesen?

Die Frage ist doch: Woran liegt es, wenn Inzidenzen sinken? Der Wellenbrecher-Lockdown im November zielte auf den Handel, die Gastronomie, Sport- und Kulturveranstaltungen ab – alles Bereiche, die sinnvolle Hygienekonzepte entwickelt hatten. Mir war klar, dass die Menschen dann in Bereiche abwandern, die wir nicht kontrollieren können. Meiner Meinung nach waren die Entscheidungen des Wellenbrecher-Lockdowns also falsch. Die Reduktion der Privatkontakte hingegen halte ich für richtig, und mein Eindruck ist, dass die Leute sich auch daran halten. Deshalb haben wir jetzt ein sinkendes Infektionsgeschehen – nicht wegen des geschlossenen Handels oder der Gastronomie.

Winfried Kretschmann und Susanne Eisenmann haben vereinbart, keinen Corona-Wahlkampf zu machen. Ist diese Abmachung aus Ihrer Sicht überholt?

Es gibt wahrscheinlich eine Absprache, das nach außen hin zu behaupten. Aber schauen wir uns doch mal den Streit um die Schulöffnungen an. Frau Eisenmann spaziert vergangene Woche ins Staatsministerium und will die schrittweise Öffnung verkünden und bekommt dann kurz vorher Bescheid, dass es in einer Freiburger Kita Mutationen gibt, die im Übrigen schon seit Tagen bekannt waren. Wer soll da an einen Zufall glauben? Und dann heißt die Kita, an der Frau Eisenmann gescheitert ist, auch noch ausgerechnet Immergrün.

Noch vor fünf Jahren haben Sie sich geziert, in eine Regierung unter Ministerpräsident Winfried Kretschmann einzutreten. Inzwischen haben Sie deutlich gemacht, dass Sie sich das sehr wohl vorstellen könnten. Was hat sich geändert?

Die Haltung von Kretschmann zum ökonomischen Topthema des Landes. Nach Corona wird die zentrale Herausforderung sein, ob es im Land zu einem Strukturbruch oder zu einem Strukturwandel in der Automobilindustrie kommt. Wir streben einen Strukturwandel an, setzen auf synthetische Kraftstoffe und Wasserstoff und auf den Erhalt der Arbeitsplätze. Das Ziel von Brüssel und Berlin ist die Vernichtung des Verbrennungsmotors und die ideologisch einseitige Durchsetzung der batterieelektrischen Mobilität. In Baden-Württemberg wäre das ein Strukturbruch – ähnlich wie im Ruhrgebiet im 20. Jahrhundert, weil Zigtausende von Arbeitsplätzen auch bei den Zulieferern verloren gingen. Herr Kretschmann hat hier seine Haltung geändert. Er hat festgestellt: Die batteriebetriebene Mobilität ist gar nicht so klimaneutral. Man muss doch zum Beispiel fragen: Womit wird die Batterie geladen? Zum Beispiel mit Strom aus polnischen Braunkohlekraftwerken. Das hilft dem Klima nicht, und es vernichtet Arbeitsplätze in Baden-Württemberg. Wir sind dankbar, dass der Ministerpräsident das erkannt hat und selbst Verkehrsminister Hermann für synthetische Kraftstoffe eintritt.

Ist Susanne Eisenmann trotzdem Ihre Wunsch-Ministerpräsidentin, oder würden Sie lieber mit Winfried Kretschmann regieren?

Wir orientieren uns nicht an der Nase von Personen. Wichtig ist, in welcher Konstellation wir unsere Inhalte umsetzen können. Das Programm der CDU hat sicher mehr Übereinstimmungen mit der FDP als das der Grünen. Aber Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit. Und wenn die Wähler signalisieren, sie wollen Herrn Kretschmann behalten, kann die FDP das nicht ignorieren.

Warum sollten die Grünen oder die CDU überhaupt ein Dreierbündnis eingehen, wenn sie auch einfach ihre Koalition fortführen können?

Stellen Sie sich mal vor, Sie wären Scheidungsrichterin. Vor Ihnen stehen Herr Kretschmann und Frau Eisenmann und schildern die Szenen ihrer Ehe vor dem Hintergrund der Streitigkeiten um die Schulöffnungen. Sie würden diese Ehe doch sofort scheiden. Es ist offensichtlich Zeit für Neues. Die beiden grünen Parteivorsitzenden haben ja erklärt, die CDU sei ein Klotz am Bein. Und wer tritt schon mit einem Klotz vor den Altar?

Sie haben die Vision eines Superministeriums für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Infrastruktur. Ist es sinnvoll, so viel Verantwortung zu bündeln?

Zentrales Thema wird die Frage sein, wie es mit den wirtschaftlichen Strukturen des Landes weitergeht. Um die zukunftsfähig mitzugestalten, braucht man ein schlagkräftiges Wirtschaftsministerium. Und wenn sich jemand zutraut, Ministerpräsident zu werden, muss er noch mehr Verantwortung bündeln.

Wenn die FDP in eine Regierungskoalition einsteigt, wäre das Ressort Wirtschaft für die FDP also nicht verhandelbar?

Alles ist verhandelbar. Wir werden sicher nicht mit derartigen Bedingungen in Koalitionsverhandlungen eintreten. Zuerst geht es um Inhalte, dann um Ressortzuschnitte und erst dann um Personen. Aber man kann im Wahlkampf ja mal sagen, was man sich vorstellt. Am Ende hängt es auch vom Wahlergebnis ab. Mit zwölf Prozent können wir mehr durchsetzen als mit acht Prozent.

Und was glauben Sie, landet die FDP eher bei acht oder eher bei zwölf Prozent?

Das weiß ich nicht. Ich werde keine Zahl nennen. Es gilt das eiserne Prinzip, der Gnade des Herrn nach oben hin keine Grenzen setzen zu wollen.

Braucht es, um im Wahlkampf noch mal für richtig Aufmerksamkeit zu sorgen, vielleicht noch mal einen echten Knaller? Zum Beispiel Fotos des jungen Hans-Ulrich Rülke in Badehose am Strand so wie im letzten Wahlkampf ...

Nein, solche Aktionen kann man zu Beginn eines Wahlkampfes machen. Damit erregt man eine gewisse Aufmerksamkeit und kann anschließend seine Inhalte anbringen. Der umgekehrte Weg ist weniger zu empfehlen. Es soll ja Parteien geben, die mit missverständlichen Sprüchen auf Großplakaten von den eigenen Inhalten ablenken.