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Kiemenfußkrebs

Wieso im Schwarzwald ab und zu ein See entsteht - und wenige Wochen später verschwindet

Schopfheim / Lesedauer: 7 min

Im Südschwarzwald erscheint in unregelmäßigen Abständen ein großer See inmitten einer Wiese – und mit ihm seine seltenen Bewohner und Tausende Besucher
Veröffentlicht:23.02.2018, 13:30

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Ganz still steht Hartmut Heise am Ufer und blickt in das klare Wasser. Dann geht er ein paar Schritte und schaut wieder gebannt auf die Grashalme, die auf dem Grund des Sees hin- und herwiegen. Nein, an diesem Morgen im Februar hat der 73-Jährige kein Glück. Die Kiemenfußkrebse, einzigartig in Baden-Württemberg, bleiben verborgen.

Bei dem See in Eichen bei Schopfheim ist das mit der Verborgenheit so eine Sache. Er kommt und geht. In diesem Jahr ist er so groß, wie schon lange nicht mehr: Über 250 Meter lang, 150 Meter breit und über 2,10 Meter tief. „Der Eichener See ist wie eine launische Diva. Er kann im Jahr zweimal kommen oder sich jahrelang gar nicht zeigen“, sagt der ehrenamtliche Naturschutzwart Heise – rote Jacke, graue Haare, ruhige Stimme.

Für das rätselhafte Naturschauspiel im Südschwarzwald gibt es eine Erklärung: Eine Wanne aus Gestein und eine Schicht aus Muschelkalk verhindern in rund 40 Metern Tiefe das Absinken des Grundwassers. Wenn es längere Zeit regnet, dann steigt der Pegel. Riesige unterirdische Höhlen und Gänge spielen dabei eine entscheidende Rolle. Ist die Wanne voll, tritt das Wasser relativ schnell an die Oberfläche. Der wiederkehrende See ist keine Schopfheimer Eigenart. Auch der Schmiechener See bei Schelklingen im Alb-Donau-Kreis kommt und geht, je nach Grundwasserstand. Der Eichener See ist dennoch eine Besonderheit. „Nirgendwo sonst in Baden-Württemberg gibt es die Kiemenfußkrebse, die den See bewohnen“, sagt Angela Klein vom Landratsamt Lörrach.


Der ehrenamtliche Naturschutzwart Hartmut Heise misst den Pegel des Sees etwas abseits der Seefläche mit einem Lichtlotmessgerät.

Der Ort Eichen ist mehr als 1200 Jahre alt. Genauso lange beschäftigen sich die Menschen in der Region mit dem Phänomen des Sees. Heise kam als Kind in die Region, da war der See schon da. Einmal beobachtete er, wie jemand mit einem Kescher kleine Krebse als Futter für Aquarienfische fing. „Ich habe mich gefragt, ja meine Güte, wie kann das passieren auf einer ganz normalen Wiese?“ Die Sache ließ ihn nicht mehr los. Mit 14 schnappte er sich einen Spaten, stach etwas Boden heraus und legte das Gras und die Erde in eine Wanne mit Wasser. Wenige Wochen später machte er eine Entdeckung: „Da habe ich gemerkt, dass kleine Krebschen im Wasser waren.“ Inzwischen misst Heise regelmäßig den Pegel des Sees, hält Kontakt zu Experten in ganz Deutschland, hat eine Infotafel am Ufer initiiert und setzt sich für den Schutz der Kiemenfußkrebse ein.

Unerklärliches Phänomen

Zahlreiche Legenden und Sagen ranken sich um das Dorf, es geht meist um Tod, Liebschaften und Ehebruch – und immer spielt der See dabei eine große Rolle. 1784 hat der Naturforscher Heinrich Sander das Gewässer als „merkwürdigen See“ beschrieben. Er konnte sich trotz intensiver Recherchen nicht ganz erklären, warum dieser ohne Zufluss ansteigt: „In vielen kleinen Bläschen, wie aus Wurmlöchern, quillt es nach und nach herauf“, schreibt er in seinen Aufzeichnungen. Auch von einem Unglück berichtet er, wonach einmal ein Boot kenterte und sich nicht alle Passagiere retten konnten. „Vier tote Körper fischte man mit langen Stangen aus dem Wasser“, heißt es in Sanders Geschichte. „Das waren Hochzeitsgäste, hat man mir mal erzählt“, sagt Karl-Friedrich Klemm .


Auf 2,10 Meter ist der Wasserstand über der Oberfläche inzwischen angestiegen.

Der 75-Jährige ist in dem 630 Einwohner zählenden Eichen ein Urgestein. Als Kind hat er Kartoffeln auf dem Feld geerntet, das manchmal zum Gewässer wurde. Der „Eiemer See“, wie er auf alemannisch heißt, gehört seit jeher zum Dorf dazu. „Es hat ja keinen Fernseher gegeben. Nach der Schule sind wir immer an den See.“ Etliche Male war er Schlittschuhlaufen oder hat mit seinen Freunden Flöße gebaut. Einmal sei sogar jemand im Sonntagsanzug für einen Kasten Bier durch den See gelaufen. Immer am Ostermontag versammelt sich dort das ganze Dorf zum traditionellen Eierspringen – eine Brauchtumsveranstaltung mit Wein, Hühnereiern, jungen Männern und Hunderten von Zuschauern.

Am Fernwanderweg gelegen

Winfried Kirst aus dem Ruhrgebiet ist 83 Jahre alt und lebt seit 35 Jahren in Eichen. Er kann es kaum erwarten, dass der See zufriert. „Ich bin immer der erste auf dem Eis und meine fünf Söhne haben alle auf dem See das Schlittschuhlaufen gelernt“, sagt er stolz. „Wenn der See so plötzlich da ist, dann kommen Hunderte von Autos, das ist eine Völkerwanderung, als wäre es eine Goldgrube. Und hinterher ist es wieder ganz still“, beschreibt er die Stimmung am Wasser. Die Gemeinde hat für die Besucher einen Parkplatz angelegt, es gibt einen Rundweg aus Steinplatten, und der Westweg – der Fernwanderweg mit der roten Raute auf weißem Grund – führt direkt am See vorbei.

Unter der Woche ist es ruhig hier, nur eine Schar Kindergartenkinder umrundet das Gewässer. Hartmut Heise steht etwas abseits vor einem Metallrohr und lässt langsam ein Maßband herunter, an dessen Spitze eine Elektrode angebracht ist. Bei 7,50 Metern piepst und leuchtet es an der Kabeltrommel. Heise notiert sich in seinem Buch den Abstand zum Wasser, zieht die Tiefe des Rohrs ab und weiß so, wie viel Wasser wirklich in der Wanne ist. 42 Meter sind es gerade. Nur 2,10 Meter davon liegen oberhalb der Grasnarbe. In den 1960er-Jahren lag der See auch schon bei über vier Metern, erinnert sich der Eichener Karl-Friedrich Klemm. „Da war sogar die ganze Straße überflutet.“


Der Kiemenfußkrebs ist der einzige ständige Bewohner des Eichener Sees. Seine Art überlebt nur, weil das Gewässer regelmäßig austrocknet.

Auch wenn Heise die zwei Zentimeter langen Kiemenfußkrebse an diesem Tag nicht sehen kann, weiß er, dass sie da sind. Erst kürzlich hat er ein paar herausgefischt und beobachtet, wie sie in Rückenlage durch das Wasser glitten – Feenkrebse werden sie wegen dieser Schwimmhaltung in Richtung Sonnenlicht auch genannt. „Es werden weniger, zumindest habe ich den Eindruck“, sagt Heise. Eine offizielle Zählung gibt es aber nicht. Der Eichener See ist der einzige Ort mit Kiemenfußkrebsen in Baden-Württemberg. „Nur an der Elbe und in Bayern gibt es weitere gemeldete Vorkommen“, sagt Mario Engelmann von der Arbeitsgemeinschaft Urzeitkrebse. „Aber ob es die dort überhaupt noch gibt, ist nicht bekannt“, sagt er, denn so regelmäßig wie in Eichen würden deren Vorkommen nicht überprüft. Engelmann ist Professor an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Die Dauereier brauchen eine Trockenperiode, damit die Krebse überhaupt schlüpfen können. Ist das Wasser weg, liegen sie so lange auf der Grasnarbe, bis neues Wasser kommt – notfalls auch mehrere Jahre. „Die Tiere brauchen diese Extreme, um zu überleben“, sagt Heise.

Europäisches Naturdenkmal

Damit die Eier in der Trockenzeit ungestört sein können, hat der See einen besonders hohen Schutzstatus. Die Fläche ist Landschaftsschutzgebiet, flächenhaftes Naturdenkmal und steht als Flora-Fauna-Habitat-Gebiet unter europäischem Schutz. Heise setzt sich aktiv für die seltenen Bewohner ein. Das Gras in der Senke wird deshalb inzwischen nur noch einmal jährlich gemäht. Nicht immer ist es allerdings einfach, Brauchtum und Naturschutz unter einen Hut zu bekommen. Auf der einen Seite steht der Naturschutzwart, der dem See so wenig Aufregung wie möglich zumuten will, und auf der anderen Seite sind es die Eichener Einwohner, die seit Jahrhunderten mit ihrem See leben, der nicht nur lange für das Eierspringen, sondern auch landwirtschaftlich intensiv genutzt wurde.

„Das traditionelle Brauchtum soll erhalten bleiben“, sagt Heise. Inzwischen hat er erreicht, dass das Eierspringen etwas abseits des Sees veranstaltet wird. „Wenn man Gehör findet, dann ist das eine tolle Sache.“ Dass der See auch in Zukunft noch zu den Eichenern gehört, zeigt die folgende Anekdote: Beim letzten Gottesdienst direkt am Seeufer vor zwei Jahren hatte der Pfarrer das Taufwasser vergessen, erzählt Naturschutzwart Heise. Kein Problem. Aus der Tiefe des Pegelrohrs holte er kurzerhand frisches Wasser für die besondere Taufe am „Eiemer See“.